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Der Kandidat
Jack Mars


Ein Luke Stone Thriller #5
„Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Die Geschichte ist gut durchdacht und hat einen von Anfang an am Haken. Der Autor hat großartige Arbeit geleistet, Charaktere zu entwerfen, die glaubenswürdig sind – einfach eine Freude. Ich kann die Fortsetzung kaum abwarten.“. –Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über Koste es was es wolle). DER KANDIDAT ist Buch 5 der Bestseller Thriller-Reihe über Luke Stone, die mit KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch 1) beginnt – kostenlos als Download erhältlich und mit über 500 Fünf-Sterne-Rezensionen!Weil China damit droht, durch die Einforderung ihrer Staatsschuld die USA in den Bankrott zu treiben, sind die amerikanischen Staatsbürger bereit für radikale Veränderungen. Präsidentin Susan Hopkins tritt für ihre Wiederwahl an und ist am Boden zerstört, als sie das Wahlergebnis sieht. Ihr Rivale – ein cholerischer Senator aus West Virginia, der als Wahlversprechen den Abwurf von Atombomben auf Inseln im Südchinesischen Meer abgegeben hatte – hat wider aller Erwartungen gewonnen… Präsidentin Hopkins weiß jedoch, dass sie ihr Amt nicht an ihn abtreten kann. Das zu tun, würde den Dritten Weltkrieg auslösen. Sie muss beweisen, dass die Wahl sabotiert wurde und den drohenden Krieg mit China stoppen. Mit niemandem, an den sie sich sonst wenden kann, kontaktiert sie Luke Stone, den ehemaligen Anführer einer Elite-Einsatztruppe des FBI. Der Einsatz könnte nicht höher sein – ihr Befehl lautet, Amerika vor seiner größten Bedrohung zu bewahren: Seinem eigenen gewählten Präsidenten… Doch während sich die Ereignisse nur so überschlagen, stellt sich heraus, dass es vielleicht selbst für Luke Stone bereits zu spät ist… Ein Politthriller mit unablässiger Action, einem dramatischen internationalen Hintergrund und rasender Spannung stellt DER KANDIDAT Buch 5 der Bestseller-Reihe über Luke Stone dar – eine explosive Buchreihe, die den Leser bis spät in die Nacht fesselt… „Eine Thriller-Erzählung wie von den ganz Großen. Thriller-Fans, die sowohl ein intrigantes und präzise erschaffenes internationales Setting lieben, sowie die Glaubhaftigkeit und psychologische Tiefe eines Hauptcharakters, der gleichzeitig vor professionelle und private Herausforderungen gestellt wird, werden diese fesselnde Geschichte nur schwer aus den Händen legen können.“. –Midwest Book Review, Diane Donovan (über Koste es was es wolle). Buch 6 der Luke Stone Reihe – UNSERE HEILIGE EHRE – ist ebenfalls jetzt verfügbar.





Jack Mars

DER KANDIDAT




DER KANDIDAT




(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 5)




J A C KВ В  M A R S




Aus dem Englischen von Simon Dehne



Jack Mars

Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben BГјcher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist auГџerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der AGENT NULL Spionage-Thriller Serie.



Jack würde sich freuen, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie seine Webseite www.jackmarsauthor.com (http://www.jackmarsauthor.com/) und registrieren Sie sich auf seiner Email-Liste, erhalten Sie ein kostenloses Buch und gratis Kundengeschenke. Sie können ihn ebenfalls auf Facebook und Twitter finden und in Verbindung bleiben!



Copyright © 2020 von Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist ein Werk der Belletristik. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jackenbild Copyright GlebSStock, verwendet unter Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON JACK MARS




LUKE STONE THRILLER SERIE

KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)

AMTSEID (Buch #2)

LAGEZENTRUM (Buch #3)

UMGEBEN VON FEINDEN (Buch #4)

DER KANDIDAT (Buch #5)




DER WERDEGANG VON LUKE STONE

PRIMГ„RZIEL (Buch #1)

PRIMГ„RKOMMANDO (Buch #2)




EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE

AGENT NULL (Buch #1)

ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)

JAGD AUF NULL (Buch #3)

EINE FALLE FГњR NULL (Buch #4)

AKTE NULL (Buch #5)

RГњCKRUF NULL (Buch #6)

ATTENTГ„TER NULL (Buch #7)

KГ–DER NULL (Buch #8)


EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE


„Der Tod ist vorzuziehen, da jedes Schicksal besser ist denn Tyrannei.“

    – Aischylos





Zwei Jahre später…




KAPITEL EINS


02. November

02:35 Uhr Eastern Standard Time

Nahe des Tidal Basin – Washington, D.C.



„Okay“, sagte der Mann, während sein Atem in weißen Wolken davondriftete. „Was machen wir hier eigentlich?“

Es war schon spät. Die Nacht war kalt und ein leichter Regen fiel vom Himmel.

Sein Name war Patrick Norman und er sprach mit sich selbst. Er war Privatdetektiv, jemand, der es gewohnt war, lange Zeit alleine zu verbringen. Mit sich selbst zu reden war Teil seiner Arbeit.

Er stand auf dem betonierten Pfad nahe dem Ufer. Außer ihm war niemand zu sehen. Noch vor einem Moment hatte ein Obdachloser bedeckt von Zeitungspapier auf einer Bank ungefähr 50 Meter entfernt von ihm gelegen. Jetzt war er verschwunden und das Zeitungspapier lag auf dem nassen Boden verteilt.

Von Normans Standpunkt aus konnte er das Lincoln Memorial zu seiner Rechten sehen. Direkt vor ihm hinter dem Tidal Basin befand sich die Kuppel des Jefferson Memorials, beleuchtet in schimmerndem Blau und GrГјn. Die Lichter spiegelten sich auf dem Wasser wider.

Norman war schon lange im Geschäft und diese Art von Treffen mochte er am liebsten. Spät nachts an einem abgelegenen Ort, Treffen mit jemandem, der versuchte seine Identität zu verbergen – riskant. Aber das hatte sich schon oft bezahlt gemacht. Wenn nicht, wäre er jetzt nicht hier.

Auf dem betonierten Pfad ging ein Mann ging langsam auf ihn zu. Er war groß und trug einen langen Regenmantel und einen Hut mit weiter Krempe, der ihm tief ins Gesicht gezogen war. Norman beobachtete ihn, während er sich ihm näherte.

Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Norman drehte sich um und sah, dass zwei weitere Männer da waren. Einer von ihnen war der Obdachlose von eben. Er war schwarz und hatte zerrissene Arbeitshosen und eine schwere Winterjacke an. Die Jacke war nass, fleckig und mit Dreck beschmutzt. Sein Haar stand in wirren Büscheln und Locken ab. Der zweite Mann war ein nichtssagender Niemand, ebenfalls in einer Regenjacke und mit einem Hut auf seinem Kopf. Er hatte einen buschigen schwarzen Schnauzbart – wenn Norman in später hätte beschreiben müssen, wäre das das einzige, was er über ihn aussagen könnte. Er war zu überrascht, um sich andere Details zu merken.

„Kann ich den Herren weiterhelfen?“, sagte Norman.

„Mr. Norman“, sagte der große Mann hinter ihm. Er hatte eine sehr tiefe Stimme. „Ich denke ich bin es, mit dem Sie reden wollen.“

Norman ließ seine Schultern fallen. Sie spielten mit ihm. Wenn sie ihm weh tun wollten, hätten sie das wahrscheinlich längst getan. Das beruhigte ihn ein wenig – sie waren offensichtlich Regierungsangestellte. Geister. Spione. Geheimagenten würden sie sich wahrscheinlich selbst nennen. Doch keine mysteriöse Informationsquelle, die ihm Geheimnisse verraten würde. Diese Typen hatten ihn mitten in einer verregneten Nacht hierherbestellt um ihm… was genau zu sagen?

Sie verschwendeten seine Zeit.

Norman drehte sich um. „Und Sie sind?“

Der Mann zuckte mit den Schultern. Ein Lächeln war unter seinem Hut zu erkennen. „Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Was wichtig ist, ist für wen ich arbeite. Und ich kann Ihnen sagen, dass meine Vorgesetzten mit Ihrer Arbeit sehr unzufrieden sind.“

„Ich bin der Beste, den es gibt“, sagte Norman. Er antwortete ohne zu zögern. Er sagte es, weil er daran glaubte. Man konnte sich über vieles streiten. Aber eine Sache, die niemals zur Debatte stand, war die Qualität seiner Arbeit.

„Das haben sie auch geglaubt, als sie Sie angestellt haben. Ich denke, Sie können mir zustimmen, wenn ich sage, dass sie sehr geduldig gewesen sind. Sie haben Sie ein Jahr lang bezahlt, ohne Resultate zu erhalten. Doch plötzlich ist all diese Zeit vergangen und es wird langsam eng. Sie sind inzwischen dazu gezwungen worden, eine andere Richtung einzuschlagen. Sie haben gehofft, dass es nicht dazu kommen müsste. Die Wahl ist in fünf Tagen.“

Norman schüttelte seinen Kopf. Er hob seine Hände, die Handflächen nach oben. „Was kann ich Ihnen sagen? Sie wollten, dass ich Hinweise auf Korruption finde und ich habe mein Bestes getan. Es gab keine. Sie ist vielleicht vieles, aber nicht korrupt. Sie hat keinerlei Verbindungen zu den Geschäftsinteressen ihres Ehemanns, ob öffentlich oder privat. Ihr Mann verwaltet nicht einmal mehr die Tagesgeschäfte seiner Firma und die Firma hat keine Regierungsaufträge, weder hier noch sonst wo. Ihr gesamtes außereheliches Vermögen ist als Treuhandvermögen angelegt, ohne jeglichen Input von ihrer Seite – eine Maßnahme, die sie ergriffen hat, seit sie vor 15 Jahren zum ersten Mal in den Senat gewählt wurde. Es gibt keine Hinweise auf Bestechungen, nicht einmal ansatzweise.“

„Also sind Sie daran gescheitert, etwas zu finden?“, fragte der Mann.

Norman nickte. „Ich bin daran gescheitert –“

„Sie sind also gescheitert.“

Norman ging ein Licht auf, etwas, das er nicht bedacht hatte, da ihn noch nie jemand um so etwas gebeten hatte.

„Sie wollten, dass ich etwas finde“, sagte er, „egal, ob tatsächlich etwas da ist oder nicht.“

Die Männer um ihn herum sagten nichts.

„Wenn das so ist, warum haben sie es mir nicht gleich gesagt? Ich hätte ihnen gesagt, dass sie das vergessen können und dieses Missverständnis wäre nie zustande gekommen. Wenn Sie Gerüchte in die Welt setzen wollen, sollten Sie keinen Privatdetektiv anstellen, sondern einen Publizisten.“

Der Mann starrte ihn nur an. Sein Schweigen und das seiner beiden Handlanger, machte ihn nervös. Norman fühlte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen. Sein Körper zitterte leicht.

„Haben Sie Angst, Mr. Norman?“

„Vor Ihnen? Kein bisschen.“

Der Mann blickte die beiden Männer hinter Norman an. Sie packten ihn, ohne ein Wort zu sagen. Sie blockierten seine Arme, zerrten sie hinter seinen Rücken und zwangen ihn auf die Knie. Die Feuchtigkeit vom Gras sickerte sofort durch seine Hosenbeine.

„Hey!“, schrie er. „Hey!“

Schreien war eine altbewährte Taktik, die er vor vielen Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Sie hatte ihn schon einige Male gerettet. Wenn man angegriffen wird, sollte man so laut schreien, wie man nur kann. Das verunsichert den Angreifer und sorgt oft dafür, dass umstehende Personen zu Hilfe kommen. Niemand erwartet ein lautes Opfer, da man im Alltag nur selten die Stimme erhebt. Die meisten Opfer sind leise. Das war die schmerzhafte Wahrheit – schon viele Personen wurden beraubt, vergewaltigt oder ermordet, weil sie zu gut erzogen waren, um zu schreien.

Norman holte tief Luft, um den lautesten Schrei seines Lebens loszulassen.

Der Mann riss Normans Kopf an den Haaren nach oben und stopfte ein altes Tuch in seinen Mund. Es war riesig, nass und dreckig vor Öl, Benzin oder einer anderen Substanz und der Mann rammte es tief hinein. Er brauchte mehrere gewaltsame Anläufe, damit es richtig feststeckte. Norman konnte nicht glauben, wie tief es hineinging und wie es seinen gesamten Mund ausfüllte. Seine Kiefer waren so weit auseinandergespreizt, wie es nur ging.

Er konnte das Tuch nicht herauswürgen. Sein ätzender Geruch und der Geschmack waren unerträglich. Sein Magen rebellierte. Wenn er sich jetzt übergeben würde, würde er ersticken.

„Guh!“, sagte Norman. „Guh!“

Der Mann schlug Norman gegen den Kopf.

„Schnauze!“, zischte er.

Sein Hut war ihm vom Kopf gefallen. Jetzt konnte Norman seine wilden und gefährlichen blauen Augen sehen. Er sah weder Mitleid in ihnen noch Wut. Oder Humor. Sie zeigten überhaupt keine Emotionen. Unter seinem Mantel zog er eine schwarze Pistole hervor. Einen Moment später hatte er einen langen Schalldämpfer in der Hand. Langsam, sorgfältig, ohne jegliche Eile, schraubte er den Schalldämpfer auf den Lauf seiner Waffe.

„Wissen Sie“, fragte er, „wie diese Pistole klingen wird, wenn ich sie abfeuere?“

„Guh!“, sagte Norman. Sein gesamter Körper zitterte unkontrolliert. Sein Nervensystem war am Durchdrehen – so viele Signale, die gleichzeitig verarbeitet werden wollten. Alles, was er tun konnte, war Zittern.

Zum ersten Mal bemerkte Norman, dass der Mann schwarze Lederhandschuhe trug.

„Es klingt, als würde jemand Husten. Das denke ich mir jedes Mal. Als würde jemand so leise wie möglich Husten, als wollte er niemanden stören.“

Der Mann drГјckte die Waffe an die linke Seite von Normans Kopf.

„Gute Nacht, Mr. Norman. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Arbeit nicht erledigen konnten.“


* * *

Der Mann betrachtete die Überreste von Patrick Norman, dem ehemaligen Privatdetektiv. Er war ein großer, dünner Mann gewesen und hatte einen grauen Regenmantel und einen blauen Anzug angehabt. Sein Kopf war zerstört, die rechte Seite offen aufgrund der Austrittswunde. Blut sammelte sich um ihn und begann, durch das nasse Gras und auf den Weg zu laufen. Wenn es so weiterregnen würde, würde das Blut wahrscheinlich einfach weggewaschen werden.

Aber die Leiche?

Der Mann gab die Pistole an einen seiner Helfer weiter, an den, der sich als Obdachloser verkleidet hatte. Er hatte ebenfalls Handschuhe an, kniete sich neben der Leiche nieder und drückte ihr die Waffe in die rechte Hand. Sorgfältig drückte er jeden von Normans Fingern an verschiedene Stellen der Pistole. Er ließ sie ungefähr 15 Zentimeter von ihm entfernt auf dem Boden liegen.

Dann stand er auf und schГјttelte traurig seinen Kopf.

„Eine Schande“, sagte er mit einem Londoner Akzent. „Noch ein Selbstmord. Wahrscheinlich hatte er zu viel Stress auf der Arbeit. Zu viele Rückschläge. Zu viele Enttäuschungen.“

„Wird die Polizei das glauben?“

Der Engländer zeigte den Anflug eines Lächelns.

„Keine Chance.“




KAPITEL ZWEI


08. November

03:17 Uhr alaskischer Zeit (07:17 Uhr Eastern Standard Time)

Berg Denali

Denali Nationalpark, Alaska



Luke Stone bewegte sich nicht.

Er war in der Hocke und saß absolut still da, auf einem Flachdach hinter einer Brüstung aus grobem Zement. Die Nacht war heiß, die Luft war schwer – es war heiß genug, dass sich seine Kleidung mit Schweiß vollgesogen hatte. Er atmete schwer, seine Nasenflügel bebten, aber er machte keinerlei Geräusch. Sein Herzschlag in seiner Brust war langsam aber hart, wie eine Faust, die rhythmisch gegen eine Tür schlägt.

Bumm-BUMM. Bumm-BUMM. Bumm-BUMM.

Er lugte hinter der Ecke der Brüstung hervor. Vor ihm warteten zwei Männer mit dichten Bärten und automatischen Gewehren auf ihren Schultern. Sie standen am Rande des Gebäudes und beobachteten den Hafen unter ihnen. Sie unterhielten sich leise und lachten über etwas. Einer von ihnen zündete sich gerade eine Zigarette an. Luke griff hinunter zu seinem Bein, dort, wo sein Jagdmesser mit Klebeband an seiner Wade befestigt war.

Während Luke zuschaute, tauchte der große Ed Newsam auf. Er näherte sich von rechts und sah nahezu gelassen aus.

Er näherte sich den Wachen. Sie hatten ihn entdeckt. Ed hob seine Arme in die Luft, ging aber weiter auf sie zu. Einer der beiden brummte etwas auf Arabisch.

Luke schoss um die Ecke, sein Messer in der Hand. Eine Sekunde verging. Er raste auf die Männer zu, seine schweren Schritte krachten auf dem Kieseldach. Drei Sekunden, vier.

Die Männer hörten ihn und drehten sich um.

Jetzt griff Ed an, schnappte den Mann, der ihm am nächsten stand, am Kopf und verdrehte ihn gewaltsam nach rechts.

Luke schlug seinen Gegner in die Brust und beförderte ihn auf den Boden. Er landete auf ihm und drückte sein Messer mit aller Kraft in die Brustplatte des Mannes. Es glitt beim ersten Versuch hindurch. Er legte eine Hand auf den Mund der Wache und spürte seine borstigen Barthaare. Er stach wieder und wieder zu, rein und raus, schnell wie der Kolben einer tödlichen Maschine.

Der Mann wehrte und wand sich, er versuchte Luke hinunterzustoßen, aber Luke schlug seine Hände beiseite und stach weiter zu. Das Messer machte bei jedem Stich ein feuchtes Geräusch.

Der Mann lieГџ seine Arme langsam sinken. Seine Augen waren noch offen und er war noch am Leben, aber er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren.

Bring es zu Ende. Bring es jetzt zu Ende.

Luke riss den Kopf des Mannes nach oben, seine freie Hand immer noch auf seinem Mund und lieГџ seine Klinge Гјber seine Kehle gleiten. Ein Blutstrom pulsierte hervor.

Das war’s.

Luke ließ die Hand auf seinem Mund, bis der Mann weggetreten war. Er starrte nach oben in den schwarzen Nachthimmel, während das Leben seinen Gegner langsam verließ.

„Schau deinen Mann an“, sagte Ed. „Schau hin!“

„Ich will nicht“, sagte Luke. Er starrte nur weiter in den Himmel, die Millionen von Lichtern der Milchstraße über ihm. Er konnte etliche Sterne sehen. Es war… Ihm fehlten die Worte. Schön war nur eines von denen, das ihm in den Sinn kam. Er wollte nie wieder etwas anderes als diese Sterne sehen. Er wusste, was ihn erwarten würde, wenn er wieder nach unten schauen würde – er hatte es schon zu oft gesehen.

„Du musst hinsehen, Mann“, sagte Ed weich. „Es ist dein Job hinzusehen.“

Luke schüttelte seinen Kopf. „Nein.“

Aber er hatte keine Wahl. Er blickte auf die Leiche unter sich. Der schwarze Bart des Dschihadi war verschwunden. Anstelle des rauen Gesichts waren die schönen Züge einer Frau getreten. Das lockige schwarze Haar war jetzt lang, weich und hellbraun.

Luke hatte seine Hand immer noch auf ihrem Mund. Ihre leblosen blauen Augen starrten ihn an, ohne etwas zu sehen – die Augen seiner Frau, Becca.

Ed flüsterte jetzt. „Du hast es getan, Mann. Du hast sie umgebracht.“

Luke schreckte auf.

In tiefster Dunkelheit setzte er sich kerzengerade hin, während sein Herz immer noch wie wild pochte. Er war nackt und sein Körper war schweißgebadet. Sein Haar war ein langes, verfilztes Durcheinander. Sein blonder Bart war so dick wie der eines heiligen Kriegers des Islam. Mit seiner Frisur und dem Bart konnte man ihn leicht mit einem Obdachlosen verwechseln.

Er war in einen dicken Schlafsack eingewickelt – ausgelegt für extreme Temperaturen, bis zu 20 Grad unter null. Außerhalb seines kleinen Zelts heulte der Wind – das Zelt flatterte wie verrückt, ein Geräusch, das den Wind fast übertönte. Er war alleine auf fast 5000 Meter Höhe am westlichen Hang des Denali und der Berg war bereits mitten im Winter. Ein Schneesturm war vor zwei Tagen aufgezogen und hatte bis jetzt nicht aufgehört.

Seitdem hatte er kein Feuer machen können. Er hatte das Zelt seit 40 Stunden nicht verlassen, außer um Wasser zu lassen. Es waren noch weitere 1000 Meter bis zum Berggipfel und es sah so aus, als würde er es nicht mehr dorthin schaffen. Vielleicht würde er es nirgendwo mehr hinschaffen.

Er war denkbar unvorbereitet hierhergekommen – das wurde ihm jetzt klar. Er hatte genug Wasser für vier Tage – es war ihm vor zwei Tagen ausgegangen. Inzwischen musste er Schnee essen und aufgetautes Eis trinken, um genug Wasser zu bekommen. Aber das war nicht das größte Problem. Feste Nahrung war schlimmer. Er hatte einen Stapel getrockneter Mahlzeiten mitgebracht. Von ihnen war jetzt fast nichts mehr übrig. Als der Sturm aufgezogen war, hatte er begonnen, die Mahlzeiten zu rationieren. Er nahm weniger als die Hälfte Kalorien zu sich, die er normalerweise täglich benötigte – zum Glück hatte er sich seit zwei Tagen kaum bewegt und sparte Energie, wo er nur konnte.

Er hatte sich nicht die MГјhe gemacht, einen Campingkocher mitzunehmen. Er hatte kein Radio, also hatte er keine Ahnung, was der Wetterbericht vorhersagte. Er war mit einem privaten Helikopter eingeflogen worden und hatte sich nicht beim Parkservice gemeldet. Niemand auГџer dem Piloten wusste, dass er hier drauГџen war und er hatte ihm nur gesagt, dass er ihm Bescheid geben wГјrde, wenn er fertig war.

„Versuche ich, mich selbst umzubringen?“, fragte er sich laut. Er erschreckte sich fast vor dem Geräusch seiner eigenen Stimme.

Er kannte die Antwort. Nein. Nicht unbedingt. Wenn es passierte, okay, aber er versuche nicht aktiv zu sterben. Man könnte behaupten, dass er das Schicksal herausforderte, unnötige Risiken einging, seitdem Becca gestorben war.

Aber er wollte leben. Er wollte überleben. Wenn er das nicht schaffen würde…

Als Ehemann war er eine Niete gewesen. Als Vater hatte er versagt. Mit 41 Jahren war seine Karriere vorbei – vor zwei Jahren hatte er sich aus dem Regierungsdienst verabschiedet und sich keinen Ersatz gesucht. Er hatte schon eine Weile nicht auf seine Konten geschaut, aber er nahm an, dass er fast kein Geld mehr hatte. Das einzige, was er einigermaßen gut konnte, war in rauen und unnachgiebigen Umgebungen zu überleben. Und töten – darin war er auch gut. Abgesehen davon war er eine komplette, elende Niete.

Vielleicht wГјrde er hier auf diesem Berg sterben, aber diese Aussicht machte ihm keine Angst.

Er fühlte sich leer… wie betäubt.

„Ich sollte mir überlegen, wie ich hier rauskomme“, sagte er, aber er murmelte nur vor sich hin. Hier wäre ein annehmbarer Ort, um zu sterben und es wäre nicht einmal besonders schwer. Alles was er tun musste war… nichts. Schließlich – schon bald – würde ihm das Essen ausgehen. Geschmolzenen Schnee zu trinken würde ihn nicht besonders lange versorgen. Er würde langsam schwächer werden, bis es am Ende unmöglich wäre, aus eigener Kraft wieder abzusteigen. Er würde verhungern. Irgendwann würde er einfach einschlafen und nie wieder aufwachen.

Was sollte er nur tun?

Plötzlich fing er an zu schreien, wie aus reinem Instinkt.

„Gib mir ein Zeichen! Sag mir, was ich tun soll!“

In dem Moment machte sein Telefon ein Geräusch, das er schon lange nicht mehr gehört hatte – es klingelte. Er erschreckte sich und sein Herz setzte einen Moment lang aus. Der Klingelton war so laut, wie man ihn nur stellen konnte. Es war ein Rocksong, den sein Sohn, Gunner, vor zwei Jahren eingestellt hatte. Luke hatte ihn nie geändert. Er hatte ihn absichtlich behalten. Es war seine letzte Verbindung zu ihm.

Er schaute das Handy an. Es kam ihm fast lebendig vor, wie eine giftige Viper – man musste sich vorsehen, wie man sie anfasste. Er nahm es in die Hand, überprüfte die Nummer und ging schließlich ran.

„Hallo?“

Er hörte nur Statik. Natürlich, das dicke Zelt blockierte das Satellitensignal. Er müsste nach draußen gehen, um den Anruf anzunehmen – kein besonders angenehmer Gedanke.

„Ich muss Sie zurückrufen!“, rief er in den Hörer.

Obwohl er sich beeilte, dauerte es mehrere Minuten, die Schichten an Kleidung anzuziehen, die er benötigte. Es war zu kalt draußen, um sich nur etwas überzuwerfen. Er öffnete den Reißverschluss des Zelts und krabbelte nach draußen in den Sturm. Der Wind und das beißende Eis schlugen unmittelbar auf sein Gesicht. Hoffentlich ging es schnell.

Er hängte eine Lampe an das Zelt und stolperte ein paar Meter weiter. Er hatte eine starke Taschenlampe dabei und drehte sich alle paar Meter um, um die Richtung zurück zu überprüfen. Abgesehen von seinem Zelt gab es hier draußen keine Lichter und er konnte nur etwa 20 Meter weit sehen. Schnee und Eis wirbelten um ihn herum.

Er drückte den Knopf, um zurückzurufen und hielt das Telefon an sein Ohr. Er stand da wie eine Statue und hörte dem Piepsen zu, während das Telefon Daten mit dem Satelliten austauschte und versuchte, den Anruf durchzustellen.

„Stone?“, sagte eine tiefe männliche Stimme.

„Ja.“

„Die Präsidentin der Vereinigten Staaten.“

Einen kurzen Augenblick war es still in der Leitung.

„Luke?“, sagte eine weibliche Stimme.

„Frau Präsidentin“, rief Luke. Er konnte nicht anders, als zu lächeln. „Ganz schön lange her.“

„Viel zu lange“, sagte Susan Hopkins.

„Welchen Umständen verdanke ich diese Ehre?“

„Ich stecke in Schwierigkeiten“, sagte sie. „Du musst herkommen.“

Luke dachte einen Moment lang nach. „Äh, ich bin in der tiefsten Wildnis. Es wird ein bisschen schwer, zu –“

„Das ist egal“, sagte sie. „Wo auch immer du bist, ich schicke ein Flugzeug. Oder einen Hubschrauber. Was auch immer du brauchst.“

„Ein freundlicher Bernhardiner wäre zunächst mal nicht schlecht“, sagte Luke. „Einen mit diesen kleinen Whiskeyfässern um den Hals.“

„Abgemacht. Er kann dir auch ein Sandwich mitbringen, falls du Hunger hast.“

Luke lachte fast. „Das klingt gut. Und wenn ich fertig gegessen habe, wäre ein Hubschrauber tatsächlich nicht schlecht.“

„Auch abgemacht. Bevor wir auflegen gebe ich dich an jemanden weiter, der deine Koordinaten aufnimmt und dir ein Taxi schickt. Du weißt, wie es bei uns läuft. Rundum-Service.“

Luke musste zugeben, dass er erleichtert war. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte er keine Möglichkeit gehabt, von diesem Berg zu entkommen. Jetzt hatte er seine zweite Chance. Er hatte nicht gewusst, ob er sterben oder leben wollte – doch jetzt war es ihm klar. Das Rauschen seines Blutes, als sie gesagt hatte, sie könnte jemanden schicken, hatte es ihm verraten. Die Erkenntnis war in seinem Kopf vielleicht noch nicht angekommen, doch sein Körper wusste es.

Er wollte leben.

Trotz allem, was er durchgemacht hatte, wollte er leben.

„Was ist passiert?“, sagte Luke.

Sie zögerte und er bemerkte, wie ihre Stimme nur ganz leicht zitterte. Trotz des Windes konnte er es hören. „Gestern war die Wahl.“

Luke dachte darüber nach. Er war so lange untergetaucht, dass er keine Ahnung gehabt hatte, was für ein Datum heute war. Irgendwo weit weg, in einer anderen Welt, führte man noch Wahlkampf. Die Räder der Regierung drehten sich unaufhörlich weiter. Es gab Dinge, die diskutiert werden wollten und wichtige Entscheidungen, die man treffen musste. Es gab die Medien und Nachrichtensprecher, die miteinander diskutierten. An all diese Dinge hatte er lange nicht mehr gedacht. Er hatte sogar fast vergessen, dass sie überhaupt existierten.

Lange Zeit schwiegen sich die beiden an.

„Luke“, sagte Susan. „Ich habe die Wahl verloren.“




KAPITEL DREI


08:03 Uhr Eastern Standard Time

Das Oval Office

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Dieser Bastard“, sagte jemand im Zimmer. „Er hat sie gestohlen, ganz einfach.“

Susan Hopkins stand in der Mitte des Oval Office und starrte auf den großen Flachbildschirm an der Wand. Sie war wie betäubt, als hätte sie einen Schock erlitten. Auch wenn sie konzentriert zuschaute, hatte sie Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen. Es war einfach zu viel, um es verarbeiten zu können.

Sie war sich ihrer Kleidung nur zu bewusst. Ein dunkelblauer Anzug und eine weiße Bluse. Sie fühlte sich unwohl. Vor langer Zeit hatte er ihr wie angegossen gepasst – es war ein Maßanzug – aber heute war ihr klar, dass sich ihr Körper verändert hatte. Der Anzug saß nicht mehr. Die Schultern des Jacketts waren zu lose, die Hose zu eng. Ihre BH-Träger schnitten unangenehm in ihren Rücken.

Zu viele Mitternachtssnacks. Zu wenig Schlaf. Zu wenig Sport.

Sie seufzte tief. Ihre Arbeit wГјrde sie noch ins Grab bringen.

Zur gleichen Zeit gestern, kurz nachdem die Wahlbüros geöffnet hatten, war sie eine der ersten Personen in den Vereinigten Staaten gewesen, die ihre Stimme abgegeben hatten. Sie war mit einem breiten Lächeln auf den Lippen aus der Kabine gekommen und hatte ihre Faust gen Himmel gereckt – ein Bild, das zahlreiche TV-Kameras und Fotografen eingefangen hatten. Sie war voller Optimismus auf den Wahltag zugegangen und die Umfragen hatten mehr als 60 Prozent für sie vorhergesagt – ein überwältigender Sieg.

Und jetzt das.

Während sie zuschaute, erklomm ihr Gegner, Jefferson Monroe, das Podium in seinem Hauptquartier in Wheeling, West Virginia. Auch wenn es erst acht Uhr morgens war, war eine Menge Mitarbeiter und Förderer noch da. Überall wo die Kameras hinzeigten, waren große rot-blau-weiße Abraham Lincoln-Hüte zu sehen – sie waren zu so etwas wie einem Markenzeichen für Monroes Kampagne geworden. Sie und die aggressiven Schilder, auf denen der Kriegsschrei seiner Kampagne stand: AMERIKA GEHÖRT UNS!

Uns? Was sollte das überhaupt bedeuten? Im Gegensatz zu wem? Wem sonst sollte es gehören?

Aus dem Zusammenhang schien es klar: Den Minderheiten, nicht-Christen, Homosexuellen… was einem nur einfiel. Außerdem war es klar, an wen es insbesondere gerichtet war – an chinesische Einwanderer und chinesisch-stämmige Amerikaner. Erst vor ein paar Wochen hatte die chinesische Regierung damit gedroht, amerikanische Schulden zurückzufordern und damit einen Staatsbankrott auszulösen. Diese Tatsache hatte es Monroe ermöglicht, die Angst vor den Chinesen in den letzten Tagen vor der Wahl besonders zu schüren. Monroe kam diese Angst zugute. Laut ihm war jeder Einwanderer ein Geheimagent für die imperialistischen Absichten der Regierung in Peking, oder für chinesische Oligarchen, die amerikanische Immobilien und Unternehmen aufkauften. Laut ihm musste man mit eiserner Faust handeln, damit die Chinesen Amerika nicht übernahmen.

Und seine Anhänger glaubten ihm nur zu gern.

Jefferson Monroes Erzfeinde, und damit die Erzfeinde seiner Anhänger, waren die Chinesen. Die Chinesen waren Amerikas große Nemesis und das blauäugige ehemalige Model im Weißen Haus war entweder zu dumm, das zu erkennen, oder sie war selbst von den Chinesen eingekauft worden.

Monroe blickte mit seinen tiefliegenden stahlblauen Augen über die Menge. Er war 74 Jahre alt, hatte weiße Haare und ein Gesicht, das von tiefen Linien gezeichnet war – ein Gesicht, das viel älter schien als es war. Wenn man allein nach dem Gesicht ging, könnte man ihn auf 100 schätzen, oder auf 1000. Aber er war groß und stand aufrecht da. Er schlief nur drei bis vier Stunden pro Nacht und schien auch nicht mehr zu brauchen.

Er trug ein frisch gebügeltes Anzughemd ohne Krawatte, dessen Kragen weit offenstand – eines seiner Markenzeichen. Er war ein Milliardär, oder zumindest fast, aber natürlich war er ein Mann des einfachen Volkes. Ein Mann, der sich aus dem Nichts hochgearbeitet hatte. Er kam aus armen Verhältnissen aus den Bergen von West Virginia. Ein Mann, der, trotz seines neuen Reichtums, sein ganzes Leben lang die Reichen und Schönen verabscheut hatte. Ein Mann, der nichts mehr verabscheute als die Liberalen, insbesondere aus dem Nordosten, insbesondere aus New York. Er würde es sich nicht bieten lassen, für die Jungs aus Washington, D.C. in einen extravaganten Anzug mit Krawatte gesteckt zu werden. Praktischerweise überspielte er die Tatsache, dass er selbst zu Washington, D.C. gehörte. Seit 24 Jahren war er bereits im Senat tätig.

Susan schätzte, dass zumindest ein Kern an Wahrheit in seinem öffentlichen Bild steckte. Er kam tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen in Appalachia – so viel war bekannt. Und er hatte sich von dort aus hochgearbeitet. Aber er war alles andere als ein Mann des Volkes. Um dorthin zu kommen, wo er heute war, hatte er sich schon früh mit zwielichtigen Gestalten angefreundet. Als junger Mann war er ein Schläger für die Pinkerton-Agentur gewesen und hatte Kohlearbeiter mit Schlagstöcken eingeschüchtert. Er hatte seine gesamte frühe Karriere damit verbracht, die Interessen der Kohleindustrie zu vertreten und für weniger Regulierungen gekämpft, weniger Sicherheit am Arbeitsplatz und weniger Arbeiterrechte. Und er war reich für seine Bemühungen belohnt worden.

„Ich habe es euch gesagt“, sagte er ins Mikrofon.

Die Menge explodierte vor lautem Jubel.

Monroe beruhigte sie mit nur einer Handbewegung. „Ich habe euch gesagt, dass wir Amerika zurückerobern werden.“ Der Jubel ging erneut los. „Ihr und ich!“, rief Monroe. „Wir haben es geschafft!“

Die Jubelrufe veränderten sich und verwandelten sich langsam in einen Chor, den Susan nur zu oft gehört hatte. Die Rufe hatten eine seltsame Rhythmik an sich, wie ein Walzer oder eine Art Ruf-und-Antwort Gesang.

„AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS!“

Es ging weiter und weiter. Susan wurde ganz schlecht. Aber wenigstens sangen sie nicht mehr „Schmeißt sie raus!“ – das war eine Zeit lang ebenfalls beliebt gewesen. Das erste Mal, als sie das gehört hatte, hatte sie fast geweint. Sie wusste, dass viele von ihnen wahrscheinlich nur mitgerissen wurden. Aber wenigstens ein paar dieser Verrückten wollten sie vermutlich wirklich hängen sehen, weil sie angeblich eine Verräterin war und mit den Chinesen unter einer Decke steckte. Dieser Gedanke machte ihr schwer zu schaffen.

„Genug mit leeren Fabriken!“, rief Monroe. Er streckte eine Faust triumphant gen Himmel. „Genug mit den unkontrollierten Verbrechen in unseren Städten! Genug mit dem menschlichen Abschaum! Genug mit den chinesischen Verrätern!“

„GENUG!“, antwortete die Menge vereint, ein weiterer ihrer Lieblingsschreie. „GENUG! GENUG! GENUG!“

Kurt Kimball, ausgeruht, aufmerksam, groГџ und stark wie immer, mit seinem glatt rasierten Kopf, stellte sich vor den Bildschirm und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus.

Es war, als wäre ein Zauberspruch von Susan abgefallen. Plötzlich war sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Sie war zusammen mit Kurt, seiner Beraterin Amy, Kat Lopez, dem Verteidigungsminister Haley Lawrence und ein paar weiteren Personen hier in der Sitzecke des Oval Office. Die Anwesenden waren Susans engste Vertraute.

Marybeth Horning, Susans Vizepräsidentin, war ebenfalls per Videokonferenz zugeschaltet. Nach dem Vorfall am Mount Weather hatten sie die Sicherheitsprotokolle verändert. Marybeth und Susan sollten zu keiner Zeit am selben Ort sein. Was eine Schande war.

Marybeth war Susans Heldin. Die ultraliberale ehemalige Senatorin aus Rhode Island hatte mehr als zwei Jahrzehnte an der Brown University gelehrt. Sie wirkte schГјchtern und zerbrechlich mit ihrem grauhaarigen Bob und der runden GroГџmГјtterchen-Brille.

Aber in diesem Fall täuschte das Aussehen. Sie war jemand, der sich eifrig für Arbeiter-, Frauenrechte sowie Rechte für Homosexuelle und die Umwelt einsetzte. Aus ihrer Feder stammte die Gesundheitssysteminitiative, die Susans Regierung ins Leben gerufen hatte. Marybeth war gleichzeitig ein bescheidenes Genie, eine Geschichtsgelehrte, sowie eine würdige politische Gegnerin, die sich zu wehren wusste.

Ein weiterer trauriger Fakt war, dass Marybeth in Susans altem Haus, dem Marineobservatorium, lebte. Das Haus war einer von Susans liebsten Orten auf der ganzen Welt. Es wäre schön, wenn sie ab und zu dort vorbeischauen könnte.

„Das ist ein Problem“, sagte Kurt Kimball, während er auf den stummen Fernseher zeigte.

Susan lachte fast laut auf. „Kurt, ich habe schon immer Ihr Talent für Untertreibungen bewundert.“

Jefferson Monroe hatte ein Wahlversprechen abgegeben – ein Versprechen! – dass er an seinem ersten Amtstag den Kongress um eine Kriegserklärung gegen China ersuchen würde. Tatsächlich, und die meisten nahmen ihn nicht ernst, wenn er das sagte, hatte er impliziert, dass der erste Zug des amerikanischen Militärs ein taktischer Nuklearschlag gegen Chinas künstliche Inseln im Südchinesischen Meer sein würde. Er hatte außerdem versprochen, dass er Sicherheitsmauern um die Chinatowns in New York, Boston, San Francisco und Los Angeles errichten würde. Er hatte behauptet, dass er das gleiche von den Kanadiern in Vancouver und Calgary verlangen würde.

Die Kanadier hatten diese Idee natГјrlich verworfen.

„Das Land ist verrückt geworden“, sagte Kurt. „Und wir erwarten, dass Monroe Sie erneut dazu auffordern wird, eine Abdankungsrede zu halten, Susan.“

Kat Lopez schüttelte ihren Kopf. Als Susans Stabschefin war Kat in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht gewachsen. Sie war außerdem um ungefähr zehn Jahre gealtert. Als sie ihre Arbeit angetreten war, war sie unverhältnismäßig schön und jugendhaft für ihre 37 Jahre gewesen – jetzt sah man ihr ihre 39 Jahre deutlich an. Falten waren auf ihrem Gesicht aufgetaucht, grau hatte sich unter das schwarz ihrer Haare gemischt.

„Damit sollten Sie noch warten, Susan“, sagte sie. „Wir haben Hinweise auf massenweise Wahlunterdrückung in fünf südlichen Staaten. Außerdem gibt es Hinweise auf Manipulierung der Wahlmaschinen in Ohio, Pennsylvania und Michigan. Die Ergebnisse sind noch zu eng, als dass man sie als definitiv betrachten kann – nur weil die Nachrichtensender ihn in vielen Staaten zum Sieger erklärt haben, heißt das nicht, dass wir das auch tun müssen. Wir können dafür sorgen, dass sich diese Sache noch Wochen, wenn nicht Monate, hinzieht.“

„Und damit eine Präsidentschaftskrise auslösen“, sagte Kurt.

„Das können wir durchstehen“, sagte Kat. „Wir haben schon schlimmeres überlebt. Die Amtseinführung ist erst am 20. Januar. Wenn es so lange dauert, dann ist es halt so. Wir haben Zeit. Wenn es tatsächlich Betrug gab, werden unsere Analysten ihn entdecken. Wenn es Wahlunterdrückung gibt, wie wir vermuten, werden wir klagen. In der Zwischenzeit sind wir immer noch die Regierung.“

„Ich stimme Kat zu“, schaltete sich Marybeth per Monitor ein. „Ich sage wir kämpfen bis zum Schluss.“

Susan blickte zu Haley Lawrence. Er war groß und schwer und hatte ungepflegte blonde Haare. Sein Anzug war so voller Falten, als hätte er in ihm geschlafen. Er sah aus, als wäre er erst vor zehn Minuten aus einem Alptraum erwacht. Abgesehen von ihrer ähnlichen Größe war er das genaue Gegenteil von Kurt Kimball.

„Haley, Sie sind der einzige Republikaner in diesem Raum“, sagte Susan. „Monroe gehört zu Ihrer Partei. Ich möchte hören, was Sie denken, bevor ich eine Entscheidung treffe.“

Lawrence nahm sich Zeit, bevor er antwortete. „Ich würde nicht sagen, dass Jefferson Monroe wirklich ein Republikaner ist. Seine Ideen sind viel radikaler als konservativ. Er umgibt sich mit wütenden und nachtragenden Menschen. Er ist eine Gefahr für den Weltfrieden, unsere soziale Ordnung und die Ideale, auf denen unser Land basiert.“

Haley atmete tief ein. „Ich würde es hassen mit ansehen zu müssen, wie er und seine Leute das Oval Office und diese Gebäude besetzen, selbst wenn es sich herausstellt, dass er tatsächlich gewonnen hat. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich ihm so lange es geht in den Weg stellen.“

Susan nickte. Das war, was sie hören wollte. Es war Zeit, in den Kampf zu ziehen. „Okay. Ich werde nicht abdanken. Wir gehen nirgendwo hin.“

Kurt Kimball hob seine Hand. „Susan, ich mache bei allem mit, was Sie für richtig halten, so lange Sie sich der Konsequenzen bewusst sind.“

„Die da wären?“

Er begann sie an seiner Hand abzuzählen, in keiner bestimmten Reihenfolge.

„Indem Sie nicht freiwillig abdanken, brechen Sie mit einer zweihundert Jahre alten Tradition. Man wird Sie eine Verräterin nennen, eine Thronräuberin, eine Möchtegern-Diktatorin und vielleicht Schlimmeres. Sie werden das Gesetz brechen und könnten angeklagt werden. Wenn sich herausstellt, dass die Wahl nicht manipuliert wurde, werden Sie eitel und töricht erscheinen. Sie könnten Ihren Eintrag in den Geschichtsbüchern der Zukunft ruinieren – im Moment noch ist Ihr Vermächtnis lupenrein.“

Jetzt hob Susan ihre Hand.

„Kurt, mir sind die Konsequenzen klar“, sagte sie und seufzte ausgiebig.

„Und ich sage, wir machen weiter.“




KAPITEL VIER


11. November

16:15 Uhr Eastern Standard Time

Mount Carmel Friedhof

Reston, Virginia



Eine einzelne frisch geschnittene Rose lag auf dem braunen Gras. Luke starrte den Namen und die Widmung an, die in den schwarzen Marmor geritzt waren.

REBECCA ST. JOHN

Leben, Lachen, Lieben

Der trostlose wolkige Tag ging bereits zu Ende und es wurde langsam Nacht. Ein Zittern fuhr ihm durch den ganzen Körper. Er war von der langen Reise nach Osten erschöpft. Er hatte sich glattrasiert, sein Haar war wieder kurz – keine lange Mähne mehr, die ihn vor der Kälte schützte. Er blickte über den Friedhof, über die vielen Reihen an Grabsteinen, die die Hügel in einem stillen Vorort von Washington, D.C. bedeckten.

Er blickte in den silberfarbenen Himmel. Als sie geheiratet hatten, hatte Becca seinen Namen angenommen. Scheinbar hatte sie unter ihrem Mädchennamen ins Grab gehen wollen. Das tat weh. Damit war ihr Bruch komplett. Er schüttelte fast seine Faust in Richtung Himmel, in Beccas Richtung, wo auch immer sie jetzt sein mochte.

Hasste er sie? Nein. Aber sie machte ihn sehr, sehr wГјtend. Sie hatte ihm die Schuld fГјr alles gegeben, was in ihrer Ehe falsch gelaufen war, bis hin zu ihrem eigenen Tod am Krebs.

Auf der Zufahrt zum Friedhof am Fuße des Hügels, nur etwa 100 Meter entfernt, fuhr eine schwarze Limousine vor und parkte neben Lukes unscheinbarem Mietwagen. Er schaute zu, während ein Chauffeur in einer schwarzen Jacke und Mütze die Hintertür des Fahrzeugs öffnete.

Zwei Gestalten kamen zum Vorschein. Eine von ihnen war jung und männlich, groß wie sein Vater. Der Junge trug Jeans, Sneakers, ein Anzughemd und eine Windjacke. Die andere Gestalt war alt und weiblich, ging ein wenig gebeugt und trug einen langen schweren Wollmantel, um sich vor der feuchten Herbstluft zu schützen. Luke musste nicht lange überlegen, wer sie waren – er wusste es bereits.

Luke hatte gemogelt. Natürlich hatte er das. Vor fünfzehn Minuten hatte er genau diese Limousine verfolgt. Als er erkannte, wohin sie unterwegs war, hatte er sich dazu entschlossen, sie zu überholen. Die beiden Personen kamen jetzt langsam den Gehweg hinauf, Arm in Arm. Audrey, Beccas 72-jährige Mutter und Gunner, Luke und Beccas 13 Jahre alter Sohn.

Luke blickte für einen Moment zur Seite, während sie sich näherten. Er suchte den Horizont ab, als wäre etwas Interessantes dort zu finden. Als er zurückblickte, waren sie fast da. Er beobachtete, wie sie sich näherten. Audrey bewegte sich langsam und sah vorsichtig auf ihre Füße – sie wirkte älter, als sie war. Gunner passte sich ihr an und stützte sie. Es schien, als würde die langsame Geschwindigkeit ihm zu schaffen machen – als wäre er ein junger Hengst voll mit ungenutzter Energie, der in einem engen Stall gefangen war. All die Frustration, die sich angestaut hatte und die nur darauf wartete, zu explodieren.

Gunner starrte Luke für ein paar Sekunden verwirrt an. Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten – eine lange Zeit für einen Jungen seines Alters – und für einen Moment schien er nicht zu wissen, wer vor ihm stand. Seine Züge verdunkelten sich, als er erkannte, dass er seinen Vater anblickte. Dann sah er zu Boden.

Audrey erkannte Luke sofort.

„Können wir dir helfen?“, sagte sie, bevor sie überhaupt am Grab standen.

„Du nicht“, sagte Luke. Audrey und ihr Mann, Lance, hatten ihn nie als Schwiegersohn akzeptiert. Ihr Einfluss war bereits toxisch gewesen, bevor Becca und er überhaupt ihr Ehegelübde ausgetauscht hatten. Luke hatte Audrey nichts zu sagen.

„Was machst du hier, Dad?“, fragte Gunner. Seine Stimme war tiefer. Luke konnte den Anflug eines Adamsapfels erkennen – das war neu.

„Die Präsidentin hat mich hergerufen. Aber ich wollte euch zuerst sehen.“

„Deine Präsidentin hat verloren“, sagte Audrey. „Sie hat sich wie eine Verrückte im Weißen Haus verschanzt und weigert sich, ihre Niederlage zuzugeben. Ich habe schon immer gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Jetzt kann es die ganze Welt sehen. Hat sie etwa gehofft, Kaiserin zu werden?“

Luke sah Audrey an. Er nahm sich Zeit und betrachtete sie von oben bis unten. Sie hatte tiefliegende Augen, die so dunkel waren, dass man sie fast für schwarz halten konnte. Sie hatte eine Hakennase, die wie ein Schnabel aussah. Ihre Schultern waren gekrümmt und ihre Hände wirkten unglaublich zerbrechlich. Sie erinnerte ihn an einen Vogel – an eine Krähe, oder vielleicht an einen Geier. Auf jeden Fall an einen Aasfresser.

„Sie hat verloren“, sagte Audrey erneut. „Sie sollte darüber hinwegkommen und sich darauf vorbereiten, die Macht an den Gewinner abzutreten.“

„Gunner?“, sagte Luke und ignorierte Audrey. „Können wir reden?“

„Ich habe Rebecca gesagt, sie soll dich nicht heiraten. Ich habe ihr gesagt, dass es in einer Katastrophe enden würde. Aber ich hätte mir niemals ausgemalt, dass es so schlimm sein würde.“

„Gunner?“, wiederholte Luke, aber sein Sohn sah in nicht an. Luke sah, wie eine Träne an seiner Wange herunterlief. Er schluckte schwer.

„Ich will mich einfach nur entschuldigen.“

Das wirkte nicht richtig. Eine Entschuldigung? Das wäre nicht annähernd genug. Das wusste Luke. Es würde mehr als nur eine Entschuldigung benötigen, damit er alles wiedergutmachen konnte, falls das überhaupt möglich war. Das war es, was er Gunner sagen wollte. Er wollte ihm sagen, dass er alles tun würde, einfach alles, wenn das nur bedeuten würde, dass er wieder ein Teil seines Lebens werden konnte.

Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Er wГјrde den Rest seines Lebens daran arbeiten, ihn wiedergutzumachen.

Gunner sah ihn an und weinte jetzt. Tränen strömten über sein Gesicht. „Ich will nicht mit dir reden.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will dich nicht sehen. Ich will dich einfach nur vergessen, verstehst du das nicht?“

Luke nickte. „Okay. Okay, das kann ich respektieren. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe und dass ich immer da sein werde. Hast du meine Nummer noch? Du kannst mich anrufen, wenn du deine Meinung änderst.“

„Ich habe deine Nummer nicht mehr“, sagte Gunner. „Und ich werde meine Meinung auch nicht ändern.“

Luke nickte erneut. „Dann lasse ich dich in Ruhe.“

Audrey rief Luke hinterher, während er den Weg entlangging. „Das ist eine gute Idee“, sagte sie.

„Lass den Jungen in Ruhe.“ Dann lachte sie, ein verrücktes Gackern, das fast wie ein Hustenanfall klang, wenn Luke es nicht besser gewusst hätte.

„Lass uns mit unseren Toten in Ruhe.“

Luke stieg in sein Auto, legte den Gang ein und fuhr durch die Friedhofstore, während er selbst anfing zu weinen.




KAPITEL FГњNF


16:57 Uhr Eastern Standard Time

Bubba’s Lounge

Chester, Pennsylvania



Niemand erinnerte sich daran, wer Bubba gewesen war.

Die kleine Bar stand seit dem Zweiten Weltkrieg hier an der Straßenecke am südöstlichen Ende von Chester, nahe des Flusses. Zehn verschiedene Besitzer hatten sich die Klinke in die Hand gegeben und sie hatte schon immer Bubba’s geheißen, so weit man sich erinnerte. Doch niemand wusste genau warum.

„Schätze sie wird aufgeben“, sagte ein Mann an der Bar.

„Wurde auch Zeit“, sagte ein anderer.

Marc Reeves arbeitete heute. Marc war ein Oldtimer, 67 Jahre alt. Er hatte über die letzten 25 Jahre hinweg immer mal wieder an dieser Bar Bier ausgeschenkt und hatte drei verschiedene Geschäftsführer miterlebt. Er war hier gewesen, während diese Stadt langsam den Bach runterging. In einer Stadt, in der fast jedes andere Geschäft früher oder später zugenagelt wurde, war Bubba’s ein Erfolgsgeschäft. Aber trotzdem blieben die Besitzer nie lange.

Der Laden holte seine Ausgaben wieder rein – das war das Problem. Er schrieb weder rote noch schwarze Zahlen. Hier zu arbeiten oder hier zu trinken war besser, als die Bar zu besitzen. Wenigstens bekam man so etwas für seine Mühen.

In der Ecke hinter der Bar stand sich ein großer alter Farbfernseher. Zu dieser Tageszeit befanden sich vier oder fünf Tagtrinker auf den Hockern, die ihre Sozialversicherungschecks und was auch immer von ihren Lebern übrig war verschwendeten. Normalerweise lief der Sportsender. Heute war es jedoch anders. Heute hielt die Präsidentin ihre erste Pressekonferenz, seitdem sie die Wahl verloren hatte.

Marc war skeptisch gewesen, als sie ihr Amt angetreten hatte, insbesondere wenn man die Umstände bedachte, unter denen es geschehen war. Aber er hatte sie liebgewonnen. Insgesamt dachte er, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Sie und das Land als Ganzes hatten einige Schwierigkeiten überstanden. Also hatte er gestern etwas getan, was er nur selten tat – er hatte seine Stimme für sie abgegeben. Es war das erste Mal seit zwölf Jahren, dass er in einem Wahllokal gewesen war.

Nicht jeder war seiner Meinung.

„Ich mag den Neuen“, sagte ein dicker Mann an der Bar. Man nannte ihn Skipper. Aber wahrscheinlich hatte er in seinem Leben noch nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt. „Was hat Susan Hopkins je für Chester, Pennsylvania getan? Das will ich mal wissen. Es ist Zeit, dass jemand diese ganzen Chinesen davon abhält, in unser Land zu kommen.“

„Und unsere Jobs zurückbringt, wenn er schon dabei ist“, sagte ein Mann namens Steve-O. Steve-O war so dürr, dass Marc unwillkürlich an einen Pfeifenreiniger denken musste, wenn er ihn sah. Er kam jeden Tag her und trank Bier und Bourbon. Marc hatte noch nie gesehen, wie Steve-O auch nur einen Bissen fester Nahrung zu sich nahm. Es schien, als würde er sich nur von Alkohol ernähren.

Marc trocknete gerade Biergläser ab, die aus dem Geschirrspüler kamen. „Steve-O, du bekommst doch seit zwanzig Jahren Behindertengeld.“

„Ich meinte ja nicht meinen Job“, sagte Steve-O.

Ein paar der Anwesenden lachten.

Auf dem Fernsehbildschirm tauchte jetzt ein leeres Podium auf. Es war umgeben von amerikanischen Flaggen.

„Meine Damen und Herren“, sagte eine leise Stimme, „die Präsidentin der Vereinigten Staaten.“

Susan Hopkins kam von rechts auf die Bühne. Sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug und trug ihr Haar in einem kurzen blonden Bob. Wunderschön. Marc erinnerte sich an eine Zeit, in der sie Model gewesen war. Insbesondere an eine gewisse Sports Illustrated Badeanzug-Ausgabe von vor 25 Jahren. Damals war er ein Mann mittleren Alters gewesen, verheiratet und Familienvater. Ihre Bilder waren nahezu herzzerreißend gewesen – sie war himmlisch, unerreichbar, wie von einer anderen Welt. Er konnte nicht in Worte fassen, wie sie auf ihn gewirkt hatte. Und wenn überhaupt, dann sah sie jetzt noch besser aus – bodenständiger, reifer. Marc mochte Frauen, die ein wenig Erfahrung hatten.

„Zieh dich aus, Baby!“, sagte Steve-O, woraufhin erneut einige Anwesende kicherten.

Marc hatte Steve-O heute sechs Shots und sechs Biere in den letzten Stunden serviert. Steve-O war sichtlich angetrunken. Und er fing an, Marc auf die Nerven zu gehen. „Bald gibt’s nichts mehr für dich, Steve-O.“

Steve-O schaute ihn an. „Was?“

„Halt die Schnauze oder geh nach Hause, hab� ich gesagt.“

Marc drehte sich zurück zum Fernseher. Hopkins hatte noch nichts gesagt. Es schien, als müsste sie ihre Emotionen unter Kontrolle bringen. Das war es also. Sie würde ihr Amt abtreten. Es hatte so gewirkt, als wäre sie beliebt gewesen, aber letzten Endes hatte sie nur eine Amtszeit regiert – und noch nicht mal eine volle.

„Meine verehrten Mit-Amerikaner“, sagte sie.

Die Bar war still. Auch der Raum, in dem sie ihre Rede hielt, war fast still – Marc konnte lediglich das Surren und Klicken von Kameras hören.

„Ich werde mich kurzfassen. Wir haben eine harte Kampagne hinter uns, in der zwei sehr unterschiedliche Visionen von Amerika miteinander gekämpft haben. Eine dieser Visionen ist voll von Optimismus, Verständnis und Stolz dafür, was wir als Nation geschafft haben. Die andere ist eine Vision voll mit Wut, Verzweiflung, Ressentiment und sogar Paranoia. Sie stellt unsere Nation als ruinierte Landschaft dar, die nur durch einen Mann gerettet werden kann. Und sie verspricht uns Gewalt – Gewalt gegen unseren wichtigsten Handelspartner, sowie Gewalt gegen unsere eigene Gesellschaft, gegen unsere Nachbarn und gegen unsere Freunde.

„Ich bin mir sicher, Sie wissen, für welche Vision ich einstehe. Ich kann keine Weltanschauung akzeptieren, die auf Rassismus, Vorurteilen und Misstrauen basiert. Und doch wäre meine Aufgabe unter normalen Umständen, trotz aller Bedenken, dem augenscheinlichen Gewinner dieser Wahl zu gratulieren und ihn willkommen zu heißen, damit die Macht friedlich in seine Hände übergehen kann, so wie es unsere Demokratie will.“

Sie machte eine Pause. „Doch dies sind keine normalen Umstände.“

Marc richtete sich auf. Er spürte, wie ein Kribbeln seinen Rücken hinunterlief. Er schaute sich um und blickte die Männer an, die an seiner Bar saßen. Jeder einzelne von ihnen klebte geradezu am Bildschirm. Jeder von ihnen war plötzlich aufmerksam geworden, wie Tiere, die spürten, dass sich ein Gewitter nähert. Was wollte sie damit sagen?

„Meine Kampagne hat Beweise dafür gefunden, dass es in mindestens fünf Staaten Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe gab, einschließlich Wahlunterdrückung, aber ebenfalls offene Manipulation und eventuelles Hacken von Wahlmaschinen. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Wahl gestohlen wurde, nicht nur von unserer Kampagne, sondern vom amerikanischen Volk. Wir haben das FBI sowie das Justizministerium bereits kontaktiert und erwarten eine vollständige, unabhängige Untersuchung. Bis diese Untersuchung abgeschlossen ist – egal wie lange es dauert – kann und werde ich die Ergebnisse dieser Wahl nicht anerkennen und werde meinen Pflichten als Präsidentin der Vereinigten Staaten und meinem Amtseid nachgehen, unsere Konstitution zu wahren und sie zu schützen. Vielen Dank.“

Präsidentin Hopkins ging zurück nach rechts und verließ die Bühne. Die Stimmen der Reporter überschlugen sich, schrien Fragen in den Raum und versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Blitzlichter blinkten wie wild. Der Kamerawinkel wechselte und fokussierte sich auf die Präsidentin, während sie durch eine Seitentür hinter einem Meer von riesigen Geheimdienstagenten verschwand. Sie hatte keine einzige Frage beantwortet.

„Was soll das bedeuten?“, fragte Steve-O. „Kann sie das einfach so machen?“

Niemand antwortete ihm.

Marc trocknete weiter seine Biergläser ab. Auf diese Frage wusste er selbst keine Antwort.




KAPITEL SECHS


17:48 Uhr Eastern Standard Time

34. Stock

Das Willard Intercontinental Hotel, Washington, D.C.



„Sind wir kein Rechtsstaat?“, schrie der Mann in den Telefonhörer.

Seine Füße lagen auf dem großen polierten Eichenschreibtisch und er blickte durch die deckenhohen Fenster seines Büros auf die Lichter des Kapitols. Draußen war es bereits dunkel – zu dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter.

„Das möchte ich mal gerne wissen. Denn wenn wir doch ein Rechtsstaat sind, hat diese Frau, diese Besetzerin im Weißen Haus, schleunigst ihre Koffer zu packen. Sie hat verloren und Jefferson Monroe hat gewonnen. Jefferson Monroe ist der gewählte Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Und wenn sie bis zum Tag der Amtsübergabe nicht draußen ist, werden wir sie einfach rausschmeißen, wie ein Gerichtsvollzieher einen Mietnomaden rausschmeißt.“

Der Mann schwieg ein paar Sekunden und hörte dem Reporter am anderen Ende der Leitung zu.

„Natürlich können Sie mich zitieren. Drucken Sie jedes Wort von dem, was ich gesagt habe.“

Er beendete das Gespräch und legte den Hörer zurück auf den Schreibtisch. Er warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. Seit fast einer Stunde hatte er mit verschiedenen Reportern gesprochen, seit Susan Hopkins von der Bühne und aus dem Raum verschwunden war, in dem sie ihre lächerliche Pressekonferenz abgehalten hatte.

Sein Name war Gerry O’Brien. Mit seinen 50 Jahren war er sehr groß und so dünn wie ein Stock. Sein Haar lichtete sich und sein Gesicht war scharfkantig. Er wog immer noch genau so viel wie an dem Tag, an dem er die Universität abgeschlossen hatte. Er lief Marathons, war ein Triathlet und hatte in den letzten Jahren an Mud und Survival Runs teilgenommen. Alles, was hart war, was einen so richtig forderte, Extremsport, bei dem Teilnehmer bewusstlos am Wegesrand zurückblieben, sich die Eingeweide auskotzten, oder den Hügel herunterfielen und sich ihre Knie aufschlugen – das war genau das Richtige für ihn.

Als Sohn irischer Einwanderer war er auf den Straßen von Woodside, Queens groß geworden. Sein Vater war Gefängniswärter, seine Mutter Haushaltshilfe. Harte Menschen, die ihn dazu erzogen hatten ebenso hart zu sein. Wenn man in Woodside überleben wollte, musste man kämpfen. Das hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Er legte sich mit jedem an. Er war so kämpferisch, so erbarmungslos, dass die Kinder in seiner Nachbarschaft angefangen hatten, ihn den Hai zu nennen.

Er war der erste aus seiner Familie, der studiert hatte und anschließend – unerforschtes Gebiet – war er an die juristische Fakultät gegangen. Er hatte seine erste Million verdient, bevor er dreißig geworden war, indem er sich auf Körperverletzungen spezialisiert hatte. Er hatte ein Foto von sich machen lassen, auf dem er wütend aussah (und kaum jemand konnte so wütend aussehen wie er) und für ein paar kleine Werbeanzeigen bezahlt, die in der U-Bahn aufgehängt wurden.

Unfallverletzung? Sie brauchen jemanden, der für Ihre Rechte eintritt. Einen echten Anwalt. Einen echten New Yorker. Sie brauchen Gerry O’Brien. Sie brauchen den Hai.

Fast sofort wurde er als Gerry der Hai bekannt. Jeder, der in den fünf Bezirken New Yorks schon mal U-Bahn gefahren war, kannte seinen Namen. Manchmal setzte er sich selbst in die U-Bahn, nur um seine eigene Werbung ansehen zu können – und er hasste die U-Bahn.

Je mehr er verdiente, desto mehr Werbungen konnte er sich leisten. Und je mehr Werbungen er in Auftrag gab, desto mehr verdiente er. Schon bald schaltete er Anzeigen im Late-Night Fernsehen, später sogar im Tagesprogramm. Es war ein einziger Jackpot. Erst arbeiteten drei Anwälte für ihn, dann fünf, dann zehn. Dann 20. Als er vor zehn Jahren seine Kanzlei verkauft hatte, hatte er 33 Anwälte und mehr als 100 Hilfskräfte gehabt.

Ein paar Jahre lang hatte er sich zur Ruhe gesetzt. War umhergewandert. Hatte die Welt erkundet. Hatte zu viele Drogen eingenommen. Hatte zu viel getrunken. Sich in die Rechtsaußenpolitik zu verirren hatte vermutlich sein Leben gerettet. All seine schlechten Angewohnheiten hatte er gegen Selbstdisziplin und eine Zukunftsvision für Amerika eingetauscht, die er mit seinen Gleichgesinnten teilte – eine Rückkehr zu einer früheren, einfacheren Zeit.

Zu einer Zeit, in der die Überlegenheit der Weißen Rasse noch nicht in Frage gestellt wurde. Zu einer Zeit, in der die Ehe zwischen Mann und Frau noch heilig gewesen war. Zu einer Zeit, in der ein junger Mann aus der Schule kam und in eine Fabrik gehen konnte, um dort den Rest seines Lebens zu arbeiten und genug Geld zu verdienen, um sich und seine Familie unterstützen zu können.

Natürlich war es nicht immer so einfach. Es gab Dinge, die dazugehörten, für die man nicht zimperlich sein durfte. Dinge, die die breite Öffentlichkeit niemals einsehen würde. Er hatte große Pläne. Sie würden dieses Land bereinigen, ein für alle Mal. Aber das war nichts, was man groß herausposaunen sollte. Jedenfalls noch nicht.

Gerry der Hai stand von seinem Schreibtisch auf und ging an seinen Büros vorbei. Ein paar Sekretärinnen waren noch hier, doch die meisten Angestellten arbeiteten von anderen Orten aus. Gerry war nicht nur hier, weil er der leitende Stratege hier war, sondern auch, weil er seinen Chef nur ungern aus den Augen ließ.

Sie waren heute Nachmittag aus Louisville hergeflogen. Seinem Boss gehörte diese… was war die richtige Bezeichnung? Wohnung? Wenn man etwas mit zehn Schlafzimmern, zwölf Badezimmern, einem halben Dutzend Büros, einem Konferenzraum und einer kleinen Kantine noch Wohnung nennen konnte. Sie nahm das gesamte Stockwerk eines der bekanntesten und teuersten Hotels auf der ganzen Welt ein. In diesem Hotel wurde amerikanische Geschichte geschrieben. Hier hatte John F. Kennedy zahlreiche Schäferstündchen verbracht.

Hier würden sie die Nacht verbringen. Am nächsten Tag hatten sie früh morgens wichtige Geschäfte in D.C. zu erledigen.

Gerry rauschte durch die Gänge, klatschte seine Schlüsselkarte gegen einen Sensor und betrat die Wohnräume. Der vordere Bereich war üppig ausgestattet und wirkte wie ein Gemälde in einem Haus aus der viktorianischen Zeit.

Ein Mann mit weißem Haar stand vor einem riesigen Fenster, dessen Vorhänge offenstanden. Er starrte in die Nacht hinaus. Der Mann trug einen dreiteiligen Anzug, obwohl er zu Hause war und keine Absichten hatte, heute noch auszugehen. Die Hemden mit offenstehendem Kragen waren natürlich nur Show. Er mochte wie jeder andere auch, sich herauszuputzen.

Er hatte einen Martini in der Hand. Das Martiniglas sah im Vergleich winzig aus. Trotz des protzigen Anzugs und seines offensichtlichen Reichtums hatte er die rauen Hände von jemandem, der damit aufgewachsen war, sich mit harter Arbeit Geld zu verdienen. Die Hände schrien geradezu: Was stimmt an diesem Bild nicht?

Es war eine unangenehme Nacht in der Hauptstadt und der Wind heulte draußen. Der alte Mann blickte über die Stadtlandschaft und ihre Lichter. Gerry wusste, dass der Dorfjunge in ihm selbst nach all den Jahrzehnten immer noch von den glänzenden Lichtern der Stadt bezaubert wurde.

„Wie läuft der Krieg?“, fragte Jefferson Monroe, gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten mit einer sanften Satzmelodie, die auf seine Herkunft aus dem Süden schließen ließ.

„Wunderschön“, sagte Gerry ernst. „Sie sitzt in der Ecke fest und weiß nicht, was sie machen soll. Ihre Erklärung heute hat das offenbart. Sie will ihr Amt nicht abtreten? Das kommt uns nur zugute. Sie schottet sich ab – die Öffentlichkeit wird auf unserer Seite sein. Wenn wir alles richtig machen, können wir sie sogar früher als geplant da rausholen. Ich denke, wir sollten den Druck erhöhen – sie dazu bringen, das Amt bereits früher abzutreten, lange bevor sie die Wahlbetrugsuntersuchungen abschließen können. Dann können wir sie einfach selbst einstellen.“

Der alte Mann drehte sich um. „Gibt es einen Präzedenzfall für einen Präsidenten, der sein Amt schon einmal verfrüht abgetreten hätte?“

Gerry der Hai schüttelte seinen Kopf. „Nein.“

„Wie sollen wir das dann schaffen?“

Jetzt lächelte Gerry. „Ich hätte da ein paar Ideen.“




KAPITEL SIEBEN


18:47 Uhr Eastern Standard Time

Das Oval Office

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



Sie war allein, als Luke ins BГјro gebeten wurde.

Einen Moment lang dachte er, sie würde schlafen. Sie saß in einem Sessel in der Mitte des Raums. Sie sah aus wie ein kaputter Crashtest-Dummy oder ein Schulkind, das seinen Unmut ausdrückt, indem es sich so lässig wie möglich hinsetzt.

Das neue Resolute Desk stand hinter hier. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Auf dem Boden, rund um die Umrisse des ovalen Teppichs befand sich eine Inschrift:

Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst – Franklin Delano Roosevelt

Die Worte liefen rund um den Teppich und hörten genau da auf, wo sie auch begonnen.

Sie trug eine blaue Hose und eine weiГџe Bluse. Ihr Blazer hing auf einem der StГјhle, die am Schreibtisch standen. Ihre Schuhe lagen wie unachtsam weggeworfen auf dem Teppich.

Trotz ihrer Haltung waren ihre Augen wachsam. Sie beobachtete ihn.

„Hi, Susan“, sagte er.

„Hast du meine Pressekonferenz gesehen?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Ich schaue schon seit einem Jahr kein Fernsehen mehr. Seitdem fühle ich mich viel besser. Du solltest es auch mal ausprobieren.“

„Ich habe dem amerikanischen Volk gesagt, dass ich mein Amt nicht abgeben werde.“

Luke lachte fast. „Ich wette, das ist gut gelaufen. Was ist passiert? Hast du so sehr gefallen an deinem Job gefunden, dass du nicht mehr aufhören willst? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Ganze so nicht funktioniert.“

Ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dieses Lächeln, auch wenn es kaum zu sehen war, erinnerte ihn daran, warum sie einst ein Supermodel gewesen war. Sie war wunderschön. Ihr Lächeln brachte jeden Raum zum Leuchten. Es konnte sogar den Nachthimmel erhellen.

„Sie haben die Wahl gestohlen.“

„Natürlich haben sie das“, sagte er. „Und du wirst sie jetzt zurückstehlen. Klingt wie ein guter Plan.“ Er schwieg für einen Moment. Dann sagte er ihr, was er wirklich dachte. „Hör zu, ich glaube, du bist ohne diesen Job besser dran. Sie werden keine Susan Hopkins mehr haben, die sie herumschubsen können. Lass sie doch sehen, wie schlimm die Dinge laufen, wenn du nicht da bist. Sie werden dich darum anbetteln, zurückzukommen.“

Sie schüttelte ihren Kopf und lächelte jetzt noch mehr. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Ganze so nicht funktioniert.“

„Ich auch nicht“, sagte er.

Sie schГјttelte ihren Kopf. Ein langes Seufzen entfleuchte ihr.

„Wo warst du, Luke Stone? Du hättest hierbleiben sollen. Wir haben ganz schön viel Spaß gehabt, sobald das Chaos sich ein wenig beruhigt hatte. Wir haben viel Gutes erreicht. Und du wolltest mir zeigen, wie man schießt. Schon vergessen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Stimmt. Du wolltest den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs erschießen. Ich erinnere mich. Aber ich habe selbst seit neun Monaten keine Waffe in der Hand gehabt. Ich wollte eigentlich ab und zu auf den Schießstand gehen, um nicht völlig einzurosten. Aber dann dachte ich mir, wozu? Ich will niemanden mehr erschießen. Und selbst, wenn ich eines Tages muss, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich schon nichts verlernt haben werde.“

„Wie Fahrradfahren?“, sagte sie.

Er lächelte. „Oder wie von einem herunterfallen.“

Sie setzte sich auf und zeigte auf den Stuhl vor ihr. „Du weißt wirklich nicht, was vor sich geht?“

Luke setzte sich hin. Der Stuhl war aufrecht, weder gemütlich noch unangenehm. „Ich habe ein paar Gerüchte gehört. Der Neue ist Rechtsaußen. Er mag die Chinesen nicht. Er will die Fabrikarbeiter unterstützen. Nicht sicher, wie er das anstellen will – will er all die Roboter auf den Müll schmeißen? Wie dem auch sei, wenn es das ist, was die Leute wollen…“

„Unwissenheit ist ein Glück, schätze ich“, sagte Susan.

„Das Ganze wirkt nicht gerade glücklich auf mich, aber –“

„Er ist ein Faschist“, sagte sie. „Er ist ein Milliardär, ein Räuberbaron, der schon seit Jahrzehnten Gruppen für die Weiße Vorherrschaft unterstützt, scheinbar schon seitdem er im Senat sitzt. Er will an seinem ersten Amtstag einen Krieg mit China anzetteln, möglicherweise mit taktischen Nuklearschlägen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie viele dem wirklich Glauben schenken. Er will Sicherheitszäune und Mauern um Chinatowns in verschiedenen Städten errichten. Seine Reden sind voll mit Hass für Minderheiten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, für jeden, der nicht seiner Meinung ist. Außerdem hat er sich deutlich gegen die Unabhängigkeit der Judikative ausgesprochen.“

Luke war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er hatte das politische Geschehen schon seit langem nicht mehr verfolgt. Er vertraute Susan und er sah, dass sie daran glaubte, was sie ihm erzählte. Aber er hatte auch Schwierigkeiten, selbst daran zu glauben. Als er Teil des Militärs gewesen war, hatte er unter konservativen Präsidenten gedient, als Mitglied des Special Response Teams unter liberalen Präsidenten. Natürlich unterschieden sie sich voneinander, aber so sehr? Weiße Vorherrschaft, Sicherheitszäune um Enklaven, in denen Minderheiten lebten? Nein. Das war nicht möglich. Egal, wer an der Macht war, es gab immer noch etwas, was man den American Way of Life nannte.

„Und du willst mir sagen, dass Leute für ihn gewählt haben?“

Sie schüttelte den Kopf, ebenso ungläubig wie er. „Wir glauben, dass es Wahlbetrug in unerhörtem Ausmaß gab, Unterdrückung von Stimmen in mindestens fünf Staaten. Deswegen habe ich gesagt, dass sie die Wahl gestohlen haben.“

Luke fing an, das große ganze Puzzle zu sehen, aber einige Stücke fehlten ihm noch. „Willst du, dass ich das untersuche?“, fragte er. „Hast du mich deswegen hierherbestellt? Mir scheint, als gäbe es da hunderte andere –“

„Nein“, sagte sie. „Du hast recht. Es gibt tatsächlich hunderte andere Leute, die das tun können. Unsere Analysten schauen sich die Wahlmaschinen bereits an. Wir haben Ermittler, die Untersuchungen über Wahlunterdrückung anstellen, insbesondere in schwarzen Bezirken in den Vororten im Süden. Und die Indizien sind schon jetzt ziemlich eindeutig. Für die Untersuchung brauchen wir dich wirklich nicht.“

Ihre Antwort verwirrte ihn, verärgerte ihn sogar ein wenig. Er war alleine gewesen, hoch in den Bergen und hatte sich um seine eigenen Probleme gekümmert. Er hatte sich selbst herausgefordert. Er hatte Gott herausgefordert, ihn umzubringen. Vielleicht, um der Erleuchtung ein wenig näher zu kommen.

Doch jetzt war er zurück in Washington, D.C. und wurde von seinem Sohn angeschrien und von seiner ehemaligen Schwiegermutter belächelt. Er hatte sich durch den Feierabendverkehr geschlängelt und sich Sicherheitschecks unterzogen. Er hatte seinen Bart abrasiert und seine Haare geschnitten. Er war wieder unter normalen Menschen und ihren Problemen und Sorgen. Als er noch Soldat gewesen war, hatten sie es „zurück in der echten Welt“ genannt – ein Ort, an dem er eigentlich gar nicht sein wollte.

„Was tue ich dann hier?“, fragte er.

„Da bin ich mir auch noch nicht ganz sicher“, sagte sie. „Aber ich weiß, dass ich dich brauche. Indem ich mich geweigert habe, mein Amt abzutreten, habe ich etwas getan, was noch nie vorher jemand getan hat. Das ist das erste Mal in der Geschichte Amerikas. Die Dinge könnten hier sehr schnell den Bach runtergehen und ich habe nicht viele Leute in meiner Verwaltung, denen ich traue. Ich meine uneingeschränkt, zu hundert Prozent, ohne Zweifel. Ein paar, ja, aber nicht viele.“

Sie zeigte auf ihn. „Und dich. Als ich frisch im Amt war, hast du das Land wieder und wieder vor dem Untergang bewahrt. Du hast mein Leben gerettet. Und meine Tochter. Vielleicht hast du sogar die Welt vor einem Atomkrieg gerettet. Und dann bist du verschwunden, als es gerade gut wurde. Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen, Luke. Du bist für schlechtes Wetter gebaut, um es milde auszudrücken. Und für mich fühlt es sich so an, als wenn gerade ein Sturm aufzieht.“

FГјr schlechtes Wetter gebaut.

So hatte es noch nie jemand ausgedrückt. Aber natürlich hatte sie recht – sie wusste, wie er tickte, vielleicht besser als Becca es je gewusst hatte. Besser vielleicht, als er sich selbst kannte. Er war nicht nur für schlechtes Wetter gebaut, er lebte dafür. Wenn die sprichwörtliche Sonne schien, langweilte er sich schnell. Er ging davon. Und suchte nach dem nächsten Hurricane, in den er sich verirren konnte.

„Also, was soll ich tun?“

„Bleib nah bei mir. Wohn für eine Weile in der Residenz des Weißen Hauses. Wir können uns einen offiziellen Titel für dich ausdenken – persönlicher Bodyguard. Informationsstratege. Das klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber egal. Chuck Berg ist immer noch Leiter für den Personenschutz beim Geheimdienst. Er kennt und respektiert dich. Es gibt hier genug Räume, in denen man unterkommen kann. Du kannst sogar ins Lincoln-Schlafzimmer, wenn du willst. Da haben wir schon einige Prominente untergebracht. Der Sänger der Rockband Zero Hour und seine Frau haben erst vor einigen Wochen darin übernachtet. Nette Leute – ganz anders als auf der Bühne. Er hat einige Spendenprojekte in Afrika organisiert, hat für Wasserfiltersysteme bezahlt und so weiter.“

Sie holte kurz Luft, bevor sie weitererzählte. „Offensichtlich weißt du, dass das Weiße Haus vor zwei Jahren komplett neu gebaut wurde, also hat Lincoln selbst natürlich nie wirklich im neuen Lincoln-Schlafzimmer geschlafen, aber…“

Es schien Luke, als würde sie jetzt nur noch schwafeln. Sie war wie ein kleines Mädchen, das versucht, einem Erwachsenen etwas zu erklären, ohne jemals zu erwähnen, was sie überhaupt meinte.

„Du willst ein Schmusetuch“, sagte er. „Deswegen bin ich hier.“

Sie nickte. „Ja. Als Kind hatte ich eins. Es war weich und hatte einen süßen Dinosaurier aufgestickt. Später irgendwann war es nur noch ein großer grüner Fleck. Ich habe es Decki genannt. Oh Mann, ich vermisse dieses Teil.“

Jetzt lachte Luke laut auf. Es klang wie ein plötzliches Hundebellen. Es fühlte sich gut an, zu lachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal passiert war.

„Decki, wie?“

„Genau. Decki.“

Gab es da noch mehr, um das sie ihn beten wollte? Er wusste es nicht genau. Zum Teufel, die Residenz des WeiГџen Hauses? Das war ein eindeutiges Upgrade im Vergleich zum Zimmer im Marriott, das sie ihm letzte Nacht zur VerfГјgung gestellt hatten.

„Okay“, sagte er. „Ich bin dabei.“




KAPITEL ACHT


20:26 Uhr Eastern Standard Time

SГјdlich von Canal Street

Chinatown, New York City



„Okay“, bellte Kyle Meiner. „Es geht gleich los. Also hört zu!“

Kyle hockte im hinteren Teil eines großen schwarzen Bullis, während er über die Schlaglöcher und Risse der Straßen raste. Er sah seine Männer an – acht große Jungs auf einem Haufen. Jeder von ihnen war muskelbepackt und man sah ihnen ihre regelmäßigen Fitnessstudio-Besuche an. Hier gab es niemanden, der nicht mindestens 100 Kilo stemmen oder 140 Kilo Squats durchführen konnte. Allesamt nahmen garantiert zumindest Kreatin, manche von ihnen vermutlich auch Steroide, menschliche Wachstumshormone, oder sogar Exotischeres – mit ihnen war nicht zu spaßen. Keiner von ihnen hatte Haare auf dem Kopf, die länger als ein paar Millimeter waren, einige waren total glattgeschoren.

Kyles Körper bildete keine Ausnahme, ganz im Gegenteil – er war der Größte von ihnen. Seine Arme waren wie Würgeschlangen, seine Beine wie Baumstümpfe. Venen zogen sich über seinen Bizeps, seinen Hals, seine Stirn, seine Brust, einfach überall. Kyle liebte seine Venen.

Sie bedeuteten, dass sein Blut vernГјnftig gepumpt wurde. Venen bedeuteten Kraft.

Hinter ihnen fuhren fünf weitere Bullis in einem Konvoi, was bedeutete, dass sich mindestens 40 – 50 steinharte Aktivisten auf den Straßen befanden. Enge, langärmlige T-Shirts klebten an muskulösen Brüsten und Oberkörpern – jedes einzelne schwarz mit den Worten GATHERING STORM in weiß bedruckt. Die Buchstaben erinnerten an menschliche Knochen und Spritzer, die nach Blut aussahen, befanden sich unter ihnen.

Harte Augen starrten zu Kyle zurück. Diese Männer stellten ihre Speerspitze dar.

„Ich will da draußen keine Waffen von euch sehen“, sagte Kyle. „Keine Messer, keine Schlagstöcke, Gott bewahre, wenn ich jemanden mit einer Pistole sehe. Schlagringe. Wenn ihr irgendwas dabeihabt, lasst es im Wagen. Verstanden?“

Ein paar der Männer murmelten missmutig.

„Wie bitte? Ich kann euch nicht verstehen.“

Die Stimmen wurden dieses Mal lauter.

„Das ist eine Kundgebung und ein Marsch, Jungs. Keine Straßenschlacht. Wenn die Schlitzaugen einen Kampf anzetteln, okay. Verteidigt euch und einander. Schmeißt die kleinen Kommunisten durch die Mauern, mir egal. Es sollte euch nur klar sein, dass wenn die Bullen Waffen bei euch finden, ihr garantiert verhaftet werdet. Wir haben unsere besten Anwälte auf Kurzwahl, aber wenn sie euch wegen Waffenbesitz mitnehmen, kommt ihr heute Nacht nicht mehr raus, vielleicht auch länger nicht. Ich muss mich auf euch verlassen können. Ich will nicht, dass auch nur einer von euch verhaftet wird. Das ist schlecht für euch und es schlägt sich negativ auf die Organisation nieder. Verstanden? Na los!“

„Verstanden!“, rief jemand.

„Jo!“

„Alles klar, Mann.“

Kyle lächelte. „Gut. Dann lasst uns ihnen jetzt in den Arsch treten.“

Die Schilder waren im hinteren Teil des Wagens aufeinandergestapelt. Auf den meisten stand Amerika gehört uns! Auf einem stand Schlitzaugen raus! Das war Kyles Schild. Wenn seine Männer die Speerspitze waren, war er das Gift, das auf jedem von ihnen aufgetragen wurde.

Er war 29 und seit über zwei Jahren bei Gathering Storm dabei. Es war sein Traumjob. Wo fand er seine Rekruten? Fast ausschließlich im Fitnessstudio. Gold’s Gym. Planet Fitness. YMCA. Orte, an denen große starke Jungs abhingen, Jungs, die die Schnauze voll hatten. Genug mit der Zensur. Genug mit der Gedankenpolizei. Genug davon, dass alle guten Jobs an Ausländer gingen. Genug mit der Rassenmischung.

Genug davon, dass ihnen die Religion des Multikulturalismus aufgedrängt wurde.

Wenn jemand Kyle vor fünf Jahren gesagt hätte, dass er Männer um sich versammeln würde – die besten, stärksten, aggressivsten jungen weißen Männer, die er finden konnte – und dass sie den Leuten, die verantwortlich dafür waren, dass dieses Land den Bach runterging, Gottesfurcht eintreiben würden… dass sie Amerika wieder groß machen würden… und dass er dafür auch noch bezahlt werden würde? Kyle hätte ihn für verrückt erklärt.

Und doch war er jetzt hier.

Zusammen mit seinen Jungs.

Und ihr Anführer war gerade zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.

Es lagen großartige Tage vor ihnen und sie würden einen langen, langen Weg vor sich haben. Und jeder, der sich ihnen in den Weg stellen würde, der versuchte, sie aufzuhalten oder sie auch nur zu verlangsamen – jeder Einzelne würde niedergemäht werden. So war es einfach.

Die Hintertüren des Bullis öffneten sich und seine Jungs sprangen heraus und schnappten sich ihre Schilder. Kyle war der letzte. Er trat heraus auf die Straße, die Nacht schien um ihn herum zu glänzen. Es war kalt – es schneite sogar ein wenig – aber Kyle war zu aufgeputscht, als dass er das bemerken würde. Die Straße war eng und vierstöckige Mehrfamilienhäuser standen an beiden Seiten. Alle Neonschilder der Geschäfte waren auf Chinesisch, ein einziges bedeutungsloses Gekritzel – unmöglich zu lesen, unmöglich zu verstehen.

War das hier nicht Amerika? Natürlich war es das. Und hier hatte man gefälligst Englisch zu sprechen.

Die Bullis hielten in einer geraden Linie an. Große weiße Männer in schwarzen T-Shirts waren überall, eine einzige sich windende Masse von ihnen. Sie waren wie ein Invasionstrupp, wie Wikinger auf einem Überfall. Sie schwangen ihre Schilder wie Kriegsäxte. Ihr Blut kochte über.

Eine Gruppe winziger, überraschter Asiaten blickte zu ihnen voller… was?

Schock? Horror? Angst?

Oh ja, alles davon.

Die erste Stimme begann zu schreien, etwas zu zahm fГјr Kyles Geschmack, aber fГјr den Anfang ganz in Ordnung.

„Amerika… gehört uns!“

Seine Jungs fielen sofort ein und die Lautstärke erhöhte sich.

„AMERIKA… GEHÖRT UNS!“

Kyle spannte seine Arme an. Er spannte seinen RГјcken an, seine Schultern und seine Beine. Sie waren auf einer einfachen Kundgebung, so hatte er es seinen Jungs gesagt. Aber er hoffte, dass es zu mehr werden wГјrde. Er hatte seine Wut schon viel zu lange im Zaum halten mГјssen.

Kundgebungen waren schön und gut, aber er wollte einfach nur ein paar Köpfe einschlagen.

Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, bis sein Wunsch sich erfüllen sollte. Während sie in einer Linie die Straße hinabmarschierten, fing vielleicht 15 Meter vor ihm das Geschubse an.

Einer seiner Jungs packte einen Chinesen an beiden Schultern und warf ihn in einen Haufen Taschenbücher, die vor einem Geschäft aufgestapelt waren. Der Chinese fiel auf den Stapel, der sofort in sich zusammenfiel. Zwei weitere Chinesen sprangen seinen Jungen daraufhin an. Plötzlich fing Kyle an zu rennen. Er ließ sein Schild fallen und schob sich durch die Menge.

Er warf einen Chinesen zu Boden und watete durch eine Gruppe von ihnen, während er wild um sich schlug. Seine Fäuste krachten auf Knochen, die wie Zweige unter dem Aufprall zerbrachen.

Und das, wusste er, war erst der Anfang.




KAPITEL NEUN


21:15 Uhr

Ocean City, Maryland



„Wie sehe ich denn aus…“, sagte Luke laut zu sich selbst.

Er stand in einem Aufzug, der mit Teppich ausgekleidet und von Glaswänden umgeben war. Eine lange Doppelreihe an Knöpfen befand sich auf der Metallverkleidung an der Wand. Er blickte sein Spiegelbild in dem gewölbten Sicherheitsspiegel in der oberen Ecke an. Es war verzerrt und merkwürdig, wie in einem Spiegelkabinett, ganz anders als die Reflektion auf der Glaswand. Der normale Spiegel zeigte einen großen Mann Anfang 50, sehr durchtrainiert, mit Krähenfüßen, die sich langsam um seine Augen bildeten und Spuren von Grau, die sich durch seine blonden Haare zogen. Seine Augen sahen uralt aus.

Während er sich betrachtete, konnte er plötzlich eine Vision von sich selbst als alter Mann sehen, einsam und verängstigt. Er war ganz allein auf dieser Welt – einsamer, als er jemals zuvor gewesen war. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Seine Frau war tot. Seine Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr da. Sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Es gab niemanden in seinem Leben.

Vor kurzem, im Auto, kurz bevor er in den Aufzug getreten war, hatte er Gunners alte Telefonnummer herausgesucht. Er war sich sicher, dass er immer noch die gleiche Nummer hatte. Der Junge hätte sie selbst behalten, nachdem er zu seinen Großeltern gezogen und ein neues Handy bekommen hätte. Luke war sich sicher – Gunner hätte sie behalten, weil er wollte, dass sein Vater ihn kontaktieren konnte.

Luke hatte eine kurze Nachricht an die alte Nummer geschickt.

Gunner, ich hab� dich lieb.

Dann hatte er gewartet. Und gewartet. Nichts. Die Nachricht war in den Äther geschickt worden und er hatte keine Antwort erhalten. Luke wusste nicht einmal, ob es tatsächlich die richtige Nummer gewesen war.

Wie konnte es nur so weit kommen?

Er hatte keine Zeit, darГјber nachzudenken. Die AufzugtГјren Г¶ffneten sich und er stand im Foyer des Apartments. Es gab keinen Flur. Keine anderen TГјren auГџer der DoppeltГјr, die sich vor ihm befand, waren zu sehen.

Die TГјr Г¶ffnete sich und Mark Swann stand vor ihm.

Luke sah ihn an. Groß und dünn, langes, sandfarbenes Haar und eine runde John Lennon Brille. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er war in den letzten zwei Jahren ganz schön gealtert. Er sah schwerer aus als vorher. Sein Bauch, sein Gesicht und sein Hals sahen dicker aus. Sein T-Shirt trug den Schriftzug SEX PISTOLS in Buchstaben, die aussahen, als hätte jemand einen Erpresserbrief mit ihnen geschrieben. Er trug blaue Jeans und gelb-schwarz karierte Sneakers.

Swann lächelte, aber Luke konnte leicht sehen, dass es ein erzwungenes Lächeln war. Swann war nicht besonders froh, ihn zu sehen. Er sah aus, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.

„Luke Stone“, sagte er. „Komm rein.“

Luke erinnerte sich an die Wohnung. Sie war groß und hypermodern. Sie war zweistöckig und offen, die Decke hing sechs Meter über ihnen. Eine Wendeltreppe führte in den zweiten Stock, wo sich ein Wohnzimmer mit einer großen weißen Couch befand. Beim letzten Mal, als er hier gewesen war, hing ein abstraktes Gemälde hinter dieser Couch – verrückte, wütende rote und schwarze Farbflecken, die auf einer 1,50 Meter großen Leinwand verteilt waren – Luke konnte sich nicht ganz erinnern, wie genau es ausgesehen hatte. Wie dem auch sei, es war jetzt verschwunden.

Die beiden Männer gaben sich die Hand und umarmten sich ein wenig unbeholfen.

„Albert Helu?“, sagte Luke und verwendete Swanns Decknamen, auf den er das Apartment ausgestellt hatte.

Swann zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst. Du kannst mich Al nennen. Jeder hier nennt mich so. Möchtest du ein Bier?“

„Gerne. Danke.“

Swann verschwand durch die TГјr in die KГјche.

Rechts von Luke war Swanns Kommandozentrale. Dort hatte sich nur wenig verändert. Eine Glaspartition trennte sie vom Rest der Wohnung ab. Ein großer schwarzer Ledersessel stand an einem Schreibtisch, unter dem ein Haufen Festplatten zu sehen war. Drei Flachbildschirme standen auf ihm und Kabel wanden sich auf dem Boden wie Schlangen.

An der Wand am anderen Ende, gegenГјber vom Sofa, hing ein groГџer Fernseher, der vielleicht halb so groГџ wie eine Kinoleinwand war. Er war stummgeschaltet. Auf dem Bildschirm waren etwa ein Dutzend Polizeiwagen zu sehen, die in einer StraГџe standen und dessen Sirenen wild am blinken waren. 50 Polizisten standen in einer Reihe. Gelbes Polizeiband war an verschiedensten Orten zu sehen. Eine riesige Menschenmenge stand hinter dem Band.

LIVE war als Schriftzug am unteren Rand zu sehen. CHINATOWN, NEW YORK CITY

Swann kam mit zwei Flaschen Bier zurГјck. Auf einmal wusste Luke instinktiv, warum Swann zugenommen hatte. Er verbrachte viel Zeit damit, Bier zu trinken.

Swann zeigte auf den Fernseher. „Hast du davon gehört?“, fragte er.

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist passiert?“

„Vor vielleicht 45 Minuten haben ein paar Neonazis sowas wie einen Marsch quer durch Chinatown in New York City veranstaltet. Gathering Storm, schon mal von ihnen gehört?“

„Swann, ich habe die letzten zwei Jahre fast ausschließlich in Zelten verbracht.“

„Dann wohl nicht. Naja, sie sind jedenfalls offiziell eine gemeinnützige Einrichtung, die sich dem Erhalt und der Verbreitung kultureller… wie soll ich es sagen? Weißheit gewidmet haben, schätze ich. Amerikanischer Europa-ismus? Du weißt schon. Sie wollen Amerika sicherer für die Weißen machen. Jefferson Monroe ist ihr Hauptunterstützer – sie sind quasi seine moderne Version der Braunhemden. Es gibt wahrscheinlich ein halbes Dutzend Gruppen wie sie, aber ich glaube sie sind die größten.“

„Was ist passiert?“

Swann zuckte mit den Achseln. „Na was schon? Sie haben angefangen, Leute auf der Straße zusammenzuschlagen. Du solltest sie mal sehen. Sie sind ein einziger Schlägertrupp. Große Typen. Sie haben die Leute nur so durch die Gegend geworfen. Ein paar Einwohner haben sich das nicht gefallen lassen. Sie haben auf die Nazis gefeuert. Ein paar von ihnen wurden erschossen, fünf Tote heißt es aktuell. Die Schützen sind noch nicht gefasst. Die Situation entwickelt sich noch, sagen sie.“

„Die Opfer waren alles Nazis?“, fragte Luke.

„Sieht so aus.“

Luke zuckte mit den Achseln. „Naja…“

„Ja. Kein großer Verlust.“

Luke blickte vom Fernseher weg. Er hatte Schwierigkeiten, zu fassen, was gerade vor sich ging. Susan Hopkins glaubte, dass die Wahl gestohlen worden war. Ihr Gegner, der neue Präsident, unterstützte Neonazigruppierungen, die gerade einen Mini-Rassenkrieg in New York City ausgelöst hatten. War es so, wie es in Amerika jetzt aussah? Wann hatte sich alles so verändert? Scheinbar war Luke tatsächlich eine lange Zeit weggewesen.

„Was hast du so in der Zwischenzeit getrieben, Swann?“

Swann saГџ auf der groГџen weiГџen Couch. Er zeigte auf einen Stuhl, der gegenГјber von ihm stand. Luke setzte sich. Das hatte gleichzeitig den glorreichen Vorteil, dass er nicht mehr auf den Fernseher blicken musste. Von hier aus konnte er die verdunkelten GlastГјren sehen, die auf Swanns Balkon fГјhrten. Vom Whirlpool aus strahlte ein blassblaues Neonlicht hinein. Ansonsten war es drauГџen fast stockdunkel. Vor langer Zeit einmal hatte Luke auf diesem Balkon geschlafen. Er wusste, dass man tagsГјber eine herrliche Aussicht auf den Atlantik hatte.

„Nicht viel“, sagte Swann. „Eigentlich nichts, um ehrlich zu sein.“

„Nichts?“

Swann schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Schau dich um. Ich bin dauerhaft krankgeschrieben. Als wir aus Syrien zurückgekommen sind, konnte ich… einfach nicht mehr zur Arbeit. Ich habe es ein paar Mal versucht. Aber im Geheimdienst ist es ganz schön hart. Mir hatte es nie etwas ausgemacht, wenn andere Menschen verletzt wurden. Aber nach Syrien? Ich hatte Panikattacken. Die abgetrennten Köpfe, weißt du? Eine Zeit lang habe ich sie ständig vor mir gesehen. Es war schlimm. Es war zu viel.“

„Das tut mir leid“, sagte Luke.

„Mir auch. Glaub mir. Und es ist noch nicht vorbei. Ich bin jetzt sowas wie ein Einsiedler. Ich habe meine alte Wohnung in D.C. noch, aber ich lebe hauptsächlich hier. Hier ist es sicher. Hier kann niemand rein, wenn ich es nicht zulasse.“

Stone dachte einen Augenblick darüber nach, sagte aber nichts. Swann hatte wohl größtenteils recht. Die meisten Menschen könnten hier nicht eindringen. Ehrliche Kleinverbrecher. Nette Menschen. Aber die Profis? Auftragsmörder? Spezialeinheiten? Die hätten kein Problem, hier einzusteigen.

„Ich gehe kaum raus“, sagte Swann. „Ich bestelle mein Essen im Internet. Ich lasse den Lieferjungen von hier aus rein und schaue per Kamera zu, wie er aus dem Aufzug kommt. Ich lasse ihm Trinkgeld im Flur, er stellt die Lieferung ab und ich schaue zu, wie er wieder runterfährt. Dann gehe ich raus und hole mein Essen. Ich weiß, dass es ein bisschen lächerlich ist.“

Luke sagte nichts. Es war traurig, was aus Swann geworden war, aber er würde es nicht lächerlich nennen. So etwas passierte nun mal. Vielleicht konnte er Swann dabei helfen, zurück in die echte Welt zu kommen, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, es würde eine Menge Arbeit bedeuten und eine Menge Zeit. Und Swann müsste es selbst wollen. Manchmal verheilten psychologische Traumata wie das, was er durchgemacht hatte, niemals wirklich. Swann war ein Gefangener von ISIS gewesen. Wenn Luke und Ed Newsam nicht gewesen wären, hätte man ihn geköpft. Er war geschlagen worden und man hatte ihm vorgegaukelt, dass seine Hinrichtung bevorstand.

Stille machte sich zwischen ihnen breit, aber es fГјhlte sich nicht unangenehm an.

„Für eine Zeit lang habe ich dir die Schuld dafür gegeben, was mir passiert ist.“

„Okay“, sagte Luke. Wenn das Swanns Meinung war, wollte er ihm sie nicht absprechen. Aber Swann hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet und Luke und Ed hatten ihr Leben riskiert, um ihn zu retten.

„Ich weiß, dass es keinen Sinn macht und ich glaube das auch nicht mehr, aber es hat monatelange Therapie gebraucht, bis ich das eingesehen habe. Du und Ed, ihr habt diese merkwürdige Aura. Als wärt ihr Superhelden. Selbst wenn ihr verletzt werdet, wirkt es nicht so, als wenn es euch wehtut. Wenn man euch zu nahesteht, fängt man selbst an zu glauben, dass man unbesiegbar ist. Aber das stimmt nicht. Normale Menschen werden verletzt und sterben manchmal.“

„Gehst du immer noch zur Therapie?“

Swann nickte. „Zwei Mal die Woche. Ich habe jemanden gefunden, der per Videokonferenz mit mir spricht. Er ist in seinem Büro, ich bin hier. Ist ziemlich gut.“

„Was sagt er dir so?“

Swann lächelte. „Er hat gesagt: ‚Was auch immer Sie tun, kaufen Sie keine Waffe.� Ich habe ihm gesagt, dass ich im 28. Stock lebe und einen Balkon habe. Ich brauche keine Waffe. Ich kann jederzeit sterben, wenn ich wollte.“

Luke entschied sich, das Thema zu wechseln. Darüber zu reden, auf welche Arten Swann Selbstmord begehen konnte… war nicht besonders angenehm.

„Triffst du dich manchmal mit Ed?“

Swann zuckte mit den Schultern. „Schon länger nicht. Er ist mit seiner Arbeit beschäftigt. Er ist Kommandant eines Geiselrettungsteams. Er ist viel im Ausland. Es gab eine Zeit, in der wir uns öfter getroffen haben. Er ist immer noch der Alte.“

„Wie stehst du zu einem neuen Job?“, fragte Luke.

„Ich weiß nicht“, sagte Swann. „Ich schätze das kommt darauf an, worum es sich handelt. Was ihr braucht, was ich tun müsste. Außerdem will ich das Geld nicht riskieren, das ich vom meiner Arbeitsunfähigkeitsversicherung bekomme. Bezahlt ihr unter der Hand?“

„Ich arbeite für die Präsidentin“, sagte Luke. „Susan Hopkins.“

„Wie niedlich. Wofür braucht sie dich?“

„Sie glaubt, dass die Wahl gestohlen wurde.“

Swann nickte. „Das habe ich auch schon gehört. Die Nachrichten überschlagen sich momentan, aber an der Sache könnte was dran sein. Sie will ihr Amt nicht abtreten. Also, wie passt du in das Bild? Und noch wichtiger, wie würde ich da reinpassen?“

„Naja, sie wird wahrscheinlich jemanden brauchen, der Infos für uns sammelt. Ich schätze, sie will ihrem Gegner irgendwelchen Dreck anhängen. Ich habe noch keine genauen Details.“

„Kann ich von hier aus arbeiten?“, fragte Swann.

„Ich schätze schon. Warum nicht?“

Luke hielt kurz inne. „Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen besorgt. Du bist anders als früher. Das weißt du selbst. Ich würde erst sichergehen wollen, dass du immer noch das Zeug dazu hast.“

Swann schien unbeeindruckt. „Teste mich wie auch immer du es für richtig hältst. Ich bin Tag und Nacht hier, Luke. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache? Ich hacke. Ich bin nicht eingerostet, ich habe sogar einige neue Tricks auf Lager. Ich bin so gut wie vielleicht noch nie. Und so lange ich nicht raus muss…“

Jetzt hielt Swann einen Moment inne. Er starrte auf das Bier, das er in der Hand hatte. Dann sah er Luke direkt in die Augen. Er sah ernst aus.

„Ich hasse Nazis“, sagte er.




KAPITEL ZEHN


12. November

08:53 Uhr Eastern Daylight Time

WestflГјgel

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Es gab die ganze Nacht über gewalttätige Ausschreitungen“, sagte Kat Lopez. „Kurt hat die Details, aber am Schlimmsten war es in Boston, San Francisco und Seattle.“

„Warum erfahre ich erst jetzt davon?“, fragte Susan.

Sie gingen durch die Flure des Westflügels zum Oval Office. Ihre hohen Hacken klackerten auf dem Marmorboden. Susan fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr – erholt von einer langen Nacht. Sie hatte in ihrer privaten Küche gefrühstückt, ohne sich die Nachrichten anzusehen. Sie glaubte, dass sich die Dinge langsam zu ihren Gunsten entwickelten. Zumindest hatte sie das bis vor einer Minute noch geglaubt.

Kat zuckte mit den Schultern. „Ich wollte, dass Sie ein wenig Schlaf bekommen. Mitten in der Nacht hätten Sie sowieso nichts unternehmen können und ich habe damit gerechnet, dass heute ein langer Tag wird. Kurt war derselben Meinung.“

„Okay“, sagte Susan. Sie wusste, dass Kat sich nur Sorgen machte.

Ein Geheimdienstagent öffnete ihnen die Türen, während sie das Oval Office betraten. Kurt Kimball stand bereits da, Hemdärmel hochgekrempelt und bereit für was auch immer kommen mochte. Luke Stone saß in einem der Sessel, fast in der gleichen Position wie gestern Abend.

Stone trug ein schlichtes schwarzes T-Shirt, eine Lederjacke, Jeans und schicke Lederstiefel. Er sah frischer aus, weniger unnahbar, mehr bei der Sache als noch gestern. Seine Augen funkelten. Stone war wie ein Weltraumcowboy, dachte Susan. Manchmal war er einfach mit den Gedanken woanders, irgendwo im Г„ther verschwunden. Aber jetzt war er zurГјck.

„Hi, Kurt“, sagte Susan.

Kurt wandte sich ihr zu. „Susan. Guten Morgen.“

„Nette Stiefel, Agent Stone.“

Stone zog seine Jeans ein wenig hoch, um ihr mehr von den Stiefeln zu zeigen. „Ferragamo“, sagte er. „Meine Frau hat sie mir einst geschenkt. Sie sind sowas wie ein Liebhaberstück.“

„Mein Beileid wegen Ihrer Frau.“

Stone nickte. „Danke.“

Sie schwiegen einen Moment. Wenn sie gekonnt hätte, hätte Susan – oder Susans emotionale Hälfte – die nächsten 20 Minuten damit verbracht, Stone wegen seiner Frau auszufragen. Seine Beziehung zu ihr, wie er ihren Tod verarbeitet hatte, was er tat, damit er nicht depressiv wurde. Aber Susan hatte im Moment nicht die Zeit dafür. Ihre praktische Hälfte wusste, dass es Zeit war, den Plan für den heutigen Tag abzuarbeiten.

„Okay, Kurt, was haben Sie für mich?“

Kurt zeigte auf den Fernsehbildschirm. „Die Ereignisse überschlagen sich geradezu. So weit keine Überraschung. Gestern Nacht gab es eine Schießerei in New York Citys Chinatown. Eine große Gruppe Mitglieder von Gathering Storm sind um ungefähr 08:30 Uhr aufgetaucht und haben einen Marsch südlich von Canal Street veranstaltet. Natürlich war es eine Provokation. Innerhalb von Minuten gab es Schlägereien mit Einwohnern.“

„Gathering Storm, wie?“ Gathering Storm war eine der Organisationen, die Monroe unterstützte, von denen Susan ganz schlecht wurde. Sie fragte sich manchmal, was diese Leute dachten, dass sie taten. Natürlich hatten sämtliche Gewaltandrohungen bis jetzt ausschließlich im Internet stattgefunden. Doch jetzt war es real.

Kurt nickte. „Ja. Es scheint, als gäbe es eine Mindestgröße, um ihnen beitreten zu können. Die Schlägereien waren ziemlich einseitig, bis zwei Auftragsmörder der Triaden aus Hong Kong – die scheinbar für einen Auftrag in New York waren – das Feuer mit Uzi-Maschinenpistolen eröffnet haben. Aktuellen Zahlen zufolge gab es 36 Verletzte, einschließlich ein Dutzend Chinesen, die wahrscheinlich aus Versehen getroffen wurden, sowie sieben Tote, allesamt Mitglieder von Gathering Storm. Weitere drei Mitglieder schweben noch in Lebensgefahr.“

Susan war sich nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. Gut so? Das war zumindest das Erste, was sie dachte.

„Die Triadenmitglieder?“

„Sind verhaftet aufgrund von mehrfachem Mord, versuchtem Mord und illegalem Waffenbesitz. Sie haben gerichtliche Übersetzer und so weit ich gehört habe, ist bereits ein Anwaltsteam aus Hong Kong unterwegs. Die Triaden haben tiefe Taschen, um es milde auszudrücken, und wir erwarten, dass die Anwälte versuchen werden, die Mordanklage auf Selbstverteidigung abzuschwächen und ein Plädoyer für die Waffen abzugeben.“

„Was denken Sie darüber?“, fragte Susan.

Kurt lächelte und schüttelte den Kopf. „New York hat keine Todesstrafe. Das ist so ziemlich das einzige Glück, was diese Typen momentan haben.“

„Was, wenn ich sie begnadige und sie mit Medaillen nach Hause schicke?“

„Ich glaube, wir haben genug Probleme.“

„Die da wären?“, fragte sie.

„Naja, als die Nachrichten aus New York sich verbreiteten, haben sich die Leute wohl ermutigt gefühlt. Gruppen an jungen Männern sind um ungefähr 10 Uhr in Bostons Chinatown auf die Straße gegangen und haben angefangen, Leute anzugreifen. Es handelte sich scheinbar um junge Männer, die in Bars unterwegs waren, da alle vier Verhaftete betrunken waren.“

„Vier Männer wurden verhaftet? Sie sagten, es seien Gruppen –“

„Ja. Es scheint, als wäre die Bostoner Polizei ein wenig großzügiger gewesen, als uns lieb wäre. Sie haben die meisten Täter mit einer Verwarnung davonkommen lassen.“

„Was noch?“

„Einige Mitglieder der Motorradgang Nazi Lowriders in Oakland ist in San Francisco in Chinatown eingedrungen und hat Leute auf offener Straße mit abgesägten Billard-Queues angegriffen. Mehr als 40 von ihnen wurden verhaftet. Zwei ihrer Opfer sind in kritischem Zustand im Krankenhaus.“

Susan seufzte und schüttelte den Kopf. „Großartig. Sonst noch was?“

„Ja. Wahrscheinlich die aufregendsten Neuigkeiten. Jefferson Monroe will heute Morgen auf einer Versammlung sprechen, vielleicht um die Gewalt letzte Nacht anzusprechen, vielleicht auch wieder, um Sie dazu aufzurufen, das Amt abzutreten. Niemand ist sich sicher, was er genau sagen wird. Aber das Beste ist, wo er seine Versammlung abhalten wird.“

Susan mochte es gar nicht, wenn Kurt nicht direkt mit der Sprache herausrГјckte.

„Na los, Kurt, raus damit. Wo?“

„Lafayette Park. Direkt auf der anderen Straßenseite.“




KAPITEL ELF


9:21 Uhr Eastern Daylight Time

Lafayette Park, Washington, D.C.



Es war wunderschön mit anzusehen.

Man nannte ihn auch Park des Volkes und heute war das Volk tatsächlich hier versammelt.

Nicht die gewöhnlichen Besucher des Parks. Nicht die zahllosen verwilderten, nutzlosen, radikalen, ungewaschenen Verlierer, die die Politik des Präsidenten protestierten, egal wer an der Macht war.

Nein. Nicht das Volk.

Das hier war sein Volk. Ein sprichwörtliches Meer an Menschen – tausende, zehntausende – die letzte Nacht die Nachricht über soziale Medien verbreitet hatten, dass er heute hier sein würde. Es war eine verdeckte Operation gewesen, ein Messer im Rücken, die Art von Aktion, die Gerry O’Brien besonders gut beherrschte. Er hatte die Erlaubnis der Stadt gestern Nachmittag kurz vor Feierabend bekommen und die Nachricht hatte sich über Nacht wie ein Lauffeuer verbreitet.

Jetzt waren sie alle hier in ihren riesigen Abraham Lincoln-Hüten und mit ihren Schildern – handbemalte Schilder, offizielle Schilder seiner Kampagne, oder professionell angefertigte Banner einer der dutzend Organisationen, die ihn unterstützten. Die meisten Menschen hatten sich in dicke Mäntel gehüllt, um sich vor der frühzeitigen Kälte zu schützen.

Jefferson Monroe blickte von der Bühne auf die Menschenmasse vor ihm – es sah aus wie ein Rock’n’Roll-Festival – und er wusste, dass er für diese Art von Moment wie geschaffen war. Er war 74 Jahre alt und hatte zahlreiche Siegestouren hinter sich: ob in seinen Anfängen als jugendlicher Schläger in Appalachia, oder als wütender junger Streikanzettler, als ambitionierter Firmenchef oder schließlich als wichtiger Aktionär und Vorsitzender der Kohleindustrie.

Später war er Senator West Virginias geworden und ein konservativer politischer Königsmacher, der stark von der Kohleindustrie unterstützt wurde, für die er einst gearbeitet hatte. Und jetzt… gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Lebenslange harte Arbeit, lange Jahrzehnte, in denen er die Leiter von ganz unten bis nach oben geklettert war. Und plötzlich, ganz überraschend (ein Ergebnis, dass niemand erwartet hatte, am wenigsten er selbst), war er der mächtigste Mann der Welt.

Hier war er jetzt, um die amtierende Präsidentin dazu anzuhalten, das Weiße Haus verfrüht zu verlassen und das Amt an ihn abzutreten. Etwas Gewagteres hatte kaum jemand bisher versucht. Hinter der Menschenmenge und über den Park hinweg konnte er das Weiße Haus sehen, wie es auf dem grünen Rasen hervorragte. Ob sie ihn wohl sehen konnte? Sah sie ihm zu?

Gott, er hoffte es.

Er wandte sich für einen Moment von der Menge ab. Hinter ihm auf der Bühne war ebenfalls eine kleine Menge versammelt. O’Brien war hier, der Drahtzieher hinter seiner Kampagne, der dunkle Herrscher der Weißen Rassistengruppen, ein Mann, der mindestens so viel Antrieb wie Monroe selbst hatte. Sogar in diesem Moment bellte er noch Anweisungen in sein Handy.

„Denkt an den Vogel“, schien Gerry der Hai zu sagen. Hatte er richtig gehört? Denkt an den Vogel? Was für eine merkwürdige Anweisung. Was meinte er damit?

„Sorgt dafür, dass er da ist, klar? Er soll genau so landen, wie wir besprochen haben. Sag mir, dass ihr das schafft. Okay? Gut. Wann?“

Monroe zuckte innerlich mit den Schultern. Mit Gerry zu arbeiten war mehr als eine Achterbahnfahrt – es war geradezu surrealistisch. Er entschied sich, seinen engsten Berater momentan zu ignorieren. Stattdessen wandte er sich an die anderen, die mit ihm auf der Bühne standen.

„Könnt ihr das sehen?“, sagte er, während er das Mikrofon mit seiner Hand abdeckte und auf die Menschenmenge deutete. „Könnt ihr das sehen?“

„Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe“, sagte ein junger Assistent.

Hinter ihm fingen die Menschen an zu klatschen – kein Durcheinander, sondern ein rhythmisches Klatschen von tausenden von Händen gleichzeitig – KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH…

Ein Gesang stieg langsam auf. So fing es an, erst das Klatschen, manchmal ein Stampfen mit den FГјГџen. Und langsam kamen die Stimmen dazu.

„U-S-A! U-S-A! U-S-A!“

Das war ein guter Anfang.

Monroe nahm seine Hand vom Mikrofon und ergriff das Podium. Er hob die andere Hand und der Gesang hörte innerhalb weniger Sekunden auf. Es war, als würde er die Lautstärke eines Fernsehers oder eines Radios herunterdrehen. Aber es war kein Lautstärkeregler, es waren tausende von Menschen, die er kontrollierte, ganz selbstverständlich, mit nur einer Handgeste. Nicht zum ersten Mal bewunderte er selbst, was für eine Macht er hatte. Wie ein Superheld.

Oder ein Gott.

„Wie fühlt sich die globale Erwärmung so an?“, fragte er und seine Stimme hallte über das Parkgelände. Die Menge lachte. Monroe wusste von zahlreichen Klimawissenschaftlern, die seine Kampagne angestellt hatte, dass die globale Erderwärmung ein unwiderlegbarer Fakt war und innerhalb des nächsten Jahrhunderts oder bereits früher eine Bedrohung für die gesamte Menschheit werden würde. Als Präsident würde er nach Möglichkeiten suchen, die diese Bedrohung abschwächen konnten, ohne der Industrie zu sehr zu schaden. Gleichzeitig würden seine eigenen Firmen ihre Investitionen in erneuerbare Energien erhöhen – Solar-, Wind- und Geothermaltechnologien, in denen die Zukunft lag.

Doch seine Anhänger wollten davon nichts wissen. Sei wollten hören, dass die globale Erwärmung nur ein Schwindel war, der zum großen Teil von Chinesen verbreitet wurde. Also war das, was Monroe ihnen sagen würde. Gib den Leuten, was sie wollen. Und es war sowieso kalt heute, unverhältnismäßig kalt für einen frühen Novembertag und das war doch Beweis genug – niemand konnte guten Gewissens behaupten, dass sich hier irgendetwas erwärmte.

„Heute ist unser Tag, wisst ihr das?“

Die Menge jubelte in lauter Zustimmung.

„Wir haben uns aus dem Nichts hochgearbeitet, ihr und ich. Okay? Wir sind aus dem Nichts gekommen. Wir sind nicht in teuren Penthäusern in Manhattan, San Francisco oder Boston aufgewachsen. Wir sind nicht auf besondere Privatschulen für besondere Menschen gegangen. Wir schlürfen keinen teuren Café Latte oder lesen die New York Times. Wir kennen diese Welt nicht. Wir wollen sie gar nicht kennen. Ihr und ich, wir haben unser ganzes Leben lang hart gearbeitet und verdient, was wir jetzt haben und was wir jemals haben werden. Und heute ist unser Tag.“

Ihr Jubeln war wie eine Explosion – ein Erdbeben. Es schien, als würde sich ein riesiges Ungeheuer unter der Erde bewegen, das seit Jahrhunderten geschlummert hatte und nun jeden Moment erwachen und voller Gewalt hervorbrechen würde.

„Heute ist der Tag, an dem wir eine der korruptesten Regierungen der amerikanischen Geschichte stürzen werden. Ja, ich weiß, ich weiß. Sie hat gesagt, sie will nicht gehen, aber ich sage euch etwas. Das wird nicht lange halten. Sie wird gehen und zwar viel schneller, als auch nur irgendwer momentan vermutet. Es wird auf jeden Fall schneller geschehen, als sie es vermutet, so viel ist sicher.“

Der Jubel ging weiter und weiter. Er wartete darauf, dass die Menge sich beruhigte. Monroes Anhänger hassten Susan Hopkins. Sie hassten sie und alles, wofür sie stand. Sie war reich, sie war schön, sie war verwöhnt – ihr hatte es in ihrem gesamten Leben an nichts gefehlt. Sie war eine Frau in einem Amt, das seit jeher ein Mann besetzt hatte.

Sie stand Einwanderern freundlich gesinnt gegenüber, und den Chinesen, deren billige Arbeitspraktiken den amerikanischen Way of Life zerstört hatten. Sie war eine Hedonistin, ein ehemaliges It-Girl und sie schien alle Vorurteile zu bestätigen, die konservative Familien über Prominente hatten. Um Gottes Willen, ihr Ehemann war schwul! Er war ein gebürtiger Franzose. Konnte es auch nur irgendetwas unamerikanischeres geben als einen schwulen Franzosen?

Susan Hopkins war in den Augen dieser Menschen ein Monster. In den Untiefen von Verschwörungsforen im Internet gab es sogar Leute, die behaupteten, dass sie und ihr Mann Mörder waren oder vielleicht sogar Schlimmeres. Sie waren Teufelsanbeter. Sie gehörten einem satanistischen Kult der Ultrareichen an, der kleine Kinder entführte und opferte.

Nun ja, heute würde Monroe auf zumindest auf die Mörder-Theorie eingehen. Er wünschte sich so sehr, dass er in das Oval Office blicken könnte, um ihr Gesicht zu sehen, wenn er die Neuigkeiten ankündigte.

Die Menge hatte sich inzwischen beruhigt. Sie warteten auf ihn.

„Ich möchte, dass ihr mir gut zuhört“, sagte er. „Denn was ich euch jetzt erzähle, mag ein wenig kompliziert sein und es ist nicht leicht mit anzuhören. Aber ich werde es euch verraten, da die Wahrheit ans Licht kommen muss. Ihr, das amerikanische Volk, ihr wahren Patrioten, verdient es, die Wahrheit zu hören. Das ist sehr wichtig. Es geht um unsere Zukunft.“

Jetzt hatte er sie in der Hand. Sie waren so weit. Er war kurz davor, die Bombe zu zГјnden. Jefferson Monroe machte sich innerlich bereit.

„Fünf Tage vor der Wahl wurde eine Leiche nahe des Tidal Basin, genau hier in Washington, D.C. aufgefunden.“

Die Menge war still. Eine Leiche? Das war neu. Das war nicht gerade ein typisches Thema für eine Jefferson Monroe Wahlveranstaltung. Es schien, als würden ihn tausende Augen gleichzeitig anstarren. Nein, es schien nicht nur so, das war tatsächlich, was gerade passierte. Erzähl uns mehr, schienen diese großen, leeren Augen zu schreien. Erzähl uns alles.

„Zuerst schien es so, als hätte der Mann Selbstmord begangen. Er wurde in den Kopf geschossen, die Waffe wurde nahe der Leiche gefunden und sie war voll mit seinen Fingerabdrücken. Sein Tod schaffte es nicht gerade in die Schlagzeilen – Menschen sterben jeden Tag und viele von ihnen nehmen sich selbst das Leben. Doch ich wusste es einfach. Ich wusste schon da, dass dieser Mann keinen Selbstmord begangen hat.“

Die Augen wichen nicht von ihm ab. Tausende und abertausende Augen.

„Woher ich das wusste?“

Niemand sagte auch nur ein Wort. Jefferson Monroe hatte noch nie eine so groГџe Menschenmenge gesehen, die so still war. Sie spГјrten, dass etwas GroГџes auf sie zukam.

„Ich wusste, dass er keinen Selbstmord begangen hat, da ich den Mann persönlich kannte. Ich würde fast sagen, dass er mein Freund war. Sein Name war Patrick Norman.“

Jefferson war es gewohnt, Lügen zu erzählen. Doch trotzdem spürte er, im Gegensatz zu manch anderem Politiker, jedes Mal ein innerliches Zwicken. Es war kein Schuldbewusstsein. Es war eher die Tatsache, dass irgendwo da draußen irgendjemand die Wahrheit kannte, und dass diese Person unermüdlich daran arbeiten würde, dass diese Wahrheit ans Licht kam. Tatsächlich waren mindesten drei Personen direkt hinter ihm, die die Wahrheit kannten. In der Organisation waren insgesamt bestimmt noch ein Dutzend weitere. Sie wussten, dass Jeff Monroe noch nie in seinem Leben mit Patrick Norman gesprochen hatte.

Er erzählte weiter.

„Patrick Norman hatte keine Selbstmordgedanken – bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil, er war einer der besten und erfolgreichsten Privatdetektive in den ganzen USA und er hat eine Menge Geld verdient. Ich weiß, was er verdient hat, da ich ihn selbst bezahlt habe. Er arbeitete für meine Kampagne, als er ermordet wurde.

„Wahlkampagnen sind ein dreckiges Geschäft, meine Freunde. Ich habe keine Hemmungen, das zuzugeben. Manchmal tut man Dinge, auf die man nicht stolz ist, um einen Vorteil gegenüber seinen Gegnern zu erhaschen. Und ich hatte Patrick angestellt, damit er den Dreck ausgräbt, den die Hopkins-Regierung und die Geschäfte des Ehemanns der bald ehemaligen Präsidentin, Pierre Michaud, am Stecken haben. Okay? Versteht ihr langsam, worauf ich hinauswill?“

Ein Raunen ging durch die Menge, wie eine Welle, die auf den Strand aufschlägt.

„Patrick hat mich ein paar Tage bevor er gestorben ist angerufen und sagte, ‚Jeff, ich habe, wonach du gesucht hast. Ich muss nur ein paar letzte Spuren untersuchen. Aber diese Sache – die Dinge, die sie getan hat – wird die Wahl zu deinen Gunsten entscheiden.�“

Eine Lüge, die sich auf eine weitere Lüge gestützt hatte. Norman hatte ihn nie angerufen. Er nannte ihn niemals Jeff – wie gesagt, er hatte nie auch nur mit ihm gesprochen. Er hatte keinen Dreck gefunden, wenn es um Susan Hopkins ging, nicht einmal nach einem ganzen Jahr Arbeit. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sie lupenrein gewesen war und wenn nicht, dann war der Dreck so tief vergraben, dass ihn niemals jemand finden würde.

„Was Patrick mir gegenüber andeutete war, dass Hopkins und ihr Ehemann Schmiergelder von anderen Staatspräsidenten angenommen hatten, einschließlich von Diktatoren aus der Dritten Welt, im Gegenzug für Gefallen von unserer Regierung. Außerdem hat er angedeutet, dass es für Pierre Michauds gestellte gemeinnützige Organisationen quid pro quos gab. Wenn die Diktatoren zuließen, dass Michaud seine Wasserreinigungssysteme – Systeme, die nicht einmal funktionieren! – bauen durfte, würden die USA Waffen an sie verkaufen. Das ist unglaublich. Und liebe Leute, das war das Letzte, was ich jemals von Patrick Norman gehört habe. Er hatte alles herausgefunden, wenn es um Susan Hopkins ging. Und dann ist er ums Leben gekommen, angeblich durch sein eigenes Tun.“

Jetzt machten sich laute Buh-Rufe in der Menge breit.

„Aber er hat es nicht selbst getan! Gestern Nachmittag hat das Büro des Gerichtsmediziners von Washington, D.C. seine Ergebnisse veröffentlicht. Patrick Norman hat die Waffe, die ihn getötet hat, nicht selbst abgefeuert. Außerdem fanden sich Anzeichen eines Kampfes. Alle Hinweise besagen, dass er umgebracht wurde und der Täter versucht hat, den Mord als Selbstmord darzustellen.“

Er hielt einen Moment inne und holte Luft. Dies waren echte Fakten, die er gerade dargelegt hatte und sie sprachen Bände.

„Nur fünf Tage vor der Wahl. Patrick Norman, der Mann, der sämtliche Beweise für Susan Hopkins� dreckige Spielchen in der Hand hatte, wurde nur fünf Tage vor der Wahl ermordet.“

Die Menge explodierte in Ekstase. Das war es, was sie hören wollten, alles, was sie jemals gewollt hatten – etwas, das zu bestätigen schien, was sie schon immer über Susan Hopkins gewusst hatten. Sie war korrupt und sie schreckte nicht einmal davor zurück, jemanden umzubringen, um diese Tatsache zu verstecken.

Während die Menge jubelte, machte sich ein weiterer Sprechchor bemerkbar. Ein Slogan, der erst kürzlich geboren worden war. Der gefährlichste Spruch von allen, ein Spruch, den Gerry der Hai selbst über seine Gathering Storm-Anhänger hatte verbreiten lassen.

„SCHMEISST… SIE… RAUS! SCHMEISST… SIE… RAUS!“

Und dann passierte etwas MerkwГјrdiges und Wunderbares.

Während seine Anhänger nach Gewalt lechzten, flog eine weiße Taube vom Himmel hinab, schwebte kurz über Jefferson Monroe, und setzte sich dann auf seine rechte Schulter. Sie schlug ein paar Mal mit ihren Flügeln, beruhigte sich aber schnell und saß nun still da. Er hatte tatsächlich eine weiße Taube auf seiner Schulter. Die Menge konnte sich nicht mehr halten.

Es war wie Magie. Mehr noch, es war ein Zeichen. Ein Zeichen von Gott selbst.

Er bewegte sich vorsichtig, um die Taube nicht aufzuschrecken.

Denkt an den Vogel. Das hatte Gerry der Hai in sein Handy geschrien.

Monroe hob seinen linken Arm und versuchte, die Menge zu beruhigen. Es gelang, zumindest ein wenig.

„Das ist eine Friedenstaube“, sagte er. „Und so werden wir es anstellen, meine Lieben. Friedlich und mit Hilfe des Gesetzes. Wir werden die Gesetze der Vereinigten Staaten durchsetzen. Wir werden dafür sorgen, dass die Macht friedlich weitergegeben wird, so wie es seit den frühesten Tagen unserer Republik Tradition ist.

„Denn wir sind eine Nation, die auf Gesetzen gegründet ist. Susan Hopkins muss noch heute das Amt des Präsidenten abtreten und das Weiße Haus verlassen. Die Polizei von Washington, D.C., sowie der Gerichtsmediziner haben ihre Arbeit geleistet – sie haben festgestellt, dass Patrick Norman keinen Selbstmord begangen hat. Und jetzt ersuche ich das Justizministerium und das FBI, ihre Arbeit zu leisten – und eine Morduntersuchung gegen die Präsidentin einzuleiten.“




KAPITEL ZWГ–LF


11:45 Uhr Eastern Daylight Time

Das Lagezentrum

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Ein Haftbefehl?“, fragte Susan Hopkins. „Ist es das, was sie ausgestellt haben?“

Kurt Kimball drehte die Lautstärke herunter. Sie hatten gerade Jefferson Monroes Rede zum wiederholten Male angeschaut – Luke hatte sie jetzt schon drei Mal gehört.

Auch wenn seine Veranstaltung danach noch weitergegangen war, war der interessante Teil nach der Rede vorbei gewesen. Ein unbekannter Countrymusiker war auf die BГјhne gekommen und hatte versucht, die Menge mit einem patriotischen Lied zu unterhalten, aber das Publikum hatte sich bereits nach wenigen Minuten verteilt.

Sie waren nicht für ein Konzert hergekommen – sie waren gekommen, um einer öffentlichen Hinrichtung beizuwohnen und man konnte fast behaupten, dass sie genau das bekommen hatten.

Jetzt schaute sich Luke im Lagezentrum um, um die verschiedenen Reaktionen zu beobachten. Der Raum war voll mit Menschen. Mitarbeiter der Wahlkampagne, der Geheimdienst, Susans eigene Leute, Angestellte der Vizepräsidentin, einige Politiker der Demokraten. Luke konnte nicht viel Kampfeswillen in ihren Augen entdecken. Manche von ihnen überlegten offensichtlich, wann der beste Zeitpunkt wäre, das Schiff zu verlassen, bevor es endgültig am Grund des Ozeans angelangt war.

Diese Art von Umgebung war Luke nicht gewohnt. Er fühlte sich fehl am Platze. Ihm war klar, dass es wichtige Entscheidungen gab, die die Leute hier treffen mussten, aber er hatte nicht die Geduld für diese Art von Arbeit. Sein typischer Prozess war so schnell wie möglich eine praktische Lösung zu finden und dann zu agieren. Kurt Kimball sah verwirrt aus. Kat Lopez wirkte ungläubig. Nur Susan wirkte ruhig.

Luke beobachtete Susan genau und fragte sich, wann sie wohl zusammenbrechen würde. Das war eine alte Gewohnheit, die er in Kriegsgebieten entwickelt hatte, insbesondere in Momenten, in denen sich seine Truppe sammeln musste – er hatte stets genau untersucht, wie viel seine Leute noch aushalten konnten. Stress war nicht zu unterschätzen, und viele Menschen brachen unter ihm zusammen. Manchmal passierte es nur langsam und schleichend, aber manchmal auch von einem Moment auf den nächsten. Egal wie, irgendwann hatte jeder genug, auch der stärkste und erfahrenste Krieger. Irgendwann schaltete jeder ab.

Aber Susan schien diesen Punkt noch nicht erreicht zu haben. Ihre Stimme war ruhig. Ihre Augen waren hart und unnachgiebig. Sie war nicht in der besten Verfassung, aber sie konnte noch kämpfen. Luke war froh darüber. Das würde es einfacher machen, an ihrer Seite zu stehen.

Kurt stand am Ende des Raumes, nahe der groГџen Leinwand, und schГјttelte seinen aalglatten Kopf.

„Nein. Sie sind eine Person von Interesse in diesem Fall, aber keine Verdächtige. Die Polizei von Washington, D.C., genauer gesagt die Mordabteilung, haben lediglich ein Verhör angefragt. Sie hätten gerne, dass Sie in ihrem Hauptquartier erscheinen. Ihre Anwälte wären bei Ihnen. Trotz allem kann es natürlich sein, dass Sie während des Verhörs zu einer Verdächtigen werden. Und an diesem Punkt könnte man Sie verhaften.“

Kurt blickte zu einem der Anwälte des Weißen Hauses, ein adretter Herr in einem dreiteiligen Anzug und sandigem, wüsten Haar. Neben ihm standen zwei Assistenten.

„Stimmt das ungefähr so, Howard?“, fragte Kurt.

Howard nickte. „Ich würde ihnen im Moment kein Verhör gewähren und erst recht keines, bei dem Sie persönlich anwesend sind. Nicht hier und unter keinen Umständen in ihrem Hauptquartier. Wenn Sie auch nur einen Fuß da reinsetzen, werden Sie nur schwer wieder rauskommen, insbesondere so, wie die Dinge momentan stehen. Wenn sie ein Verhör wollen, können sie uns anrufen oder vielleicht eine Videokonferenz machen. Sie haben Besseres zu tun, Susan. Sie sind die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Sie haben eine Verantwortung in diesem Fall, aber Sie haben auch jede Menge andere Dinge zu erledigen.“

„Verstärkt das nicht nur den Verdacht?“, fragte ein junger Mann in einem blauen Anzug und kurz geschorenen Haaren. Er saß direkt gegenüber von Luke. Er sah aus, als wäre er gerade mal 19 – und 19-jährige sahen für Luke heutzutage aus wie zwölf. „Ich meine, wir haben doch nichts zu verstecken. Da bin ich mir jedenfalls ziemlich sicher.“

„Agent Stone“, sagte Susan. „Kennen Sie meinen Wahlkampfleiter, Tim Rutledge?“

Luke schüttelte seinen Kopf. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“

Sie reichten sich über den Tisch hinweg die Hände. Rutledge hatte einen starken Händedruck, vielleicht sogar zu stark, als hätte er in einem Buch gelesen, dass ein starker Händedruck einen guten Eindruck machen würde.

Rutledge sah Luke an. „Und was ist Ihre Rolle hier, Agent Stone?“

Luke blickte ihn ausdruckslos an. Er vermutete, dass es das Beste wäre, ehrlich zu sein.

„Das weiß ich auch nicht so genau.“

„Agent Stone ist Spezialagent. Er hat mein Leben schon mehr als ein Mal gerettet, und das Leben meiner Tochter. Ich würde sagen, er hat das Leben aller Anwesenden schon mal gerettet.“

„Für wen arbeiten Sie?“, fragte Rutledge.

Luke zuckte mit den Achseln. „Ich arbeite für die Präsidentin.“ Er hielt es nicht für nötig, seine Vergangenheit im Special Response Team, bei der Delta Force oder irgendetwas anderes zu erwähnen. Wenn dieser Junge etwas davon wissen wollte, würde er es schon herausfinden. Um ehrlich zu sein fühlte Luke sich seltsam distanziert von der Person, die er einst gewesen war. Er war sich nicht sicher, was er hier überhaupt machte.

„Nun, ich arbeite ebenfalls für die Präsidentin“, sagte Rutledge. „Und ich kann Ihnen sagen, dass diese Anschuldigungen, oder was auch immer das sein soll, nicht wahr sind. Nicht ein Wort. Susan hatte nichts mit dem Mord an diesem Mann zu tun. Die Kampagne und Pierre eben so wenig. Es gibt keine Korruption. Pierres gemeinnützige Organisationen sind lupenrein. Das weiß ich, weil wir von der Kampagne selbst versucht haben herauszufinden, wo unsere potenziellen Schwächen liegen. Finanziell gesehen gibt es quasi keine. Ich weiß, dass es ein paar persönliche Dinge gibt, die uns angreifbar machen, aber auf professioneller Ebene ist Pierres Weste so weiß wie sie nur sein kann.“

„Kannten Sie das Opfer?“, fragte Kurt.

Rutledge zuckte mit den Schultern. „Ob ich ihn kannte? Nein. Ich habe von ihm gehört, aber ich habe ihn nie getroffen oder mit ihm gesprochen. Pierres Sicherheitsdirektor hat unsere Kampagne vor knapp neun Monaten vor ihm gewarnt. Es hatte mehrere Hackversuche auf Datenbanken der Firma gegeben, die sich allesamt zu Normans Detektei haben zurückverfolgen lassen. Ziemlich stümperhaft. Ab dem Zeitpunkt haben Pierres Leute vermutet, dass Norman für Monroe arbeitet, aber niemand hat sich ernsthafte Sorgen darüber gemacht. Und wir wollten ihn garantiert nicht umbringen. Wie ich schon gesagt habe, es gab einfach nichts, was er hätte finden können. Bedenken Sie, dass das alles im Kontext des letzten Sommers stattfand. Niemand hat zu dem Zeitpunkt ernsthaft daran geglaubt, dass ein Verrückter wie Jefferson Monroe tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte.“

Drei Sitze von Rutledge entfernt hob jemand die Hand. Er war ein schwächlich wirkender Mann mittleren Alters mit lichtem Haar. Er hatte eine lange Nase und kein nennenswertes Kinn. Er war dünn und Muskeln suchte man an ihm vergeblich. Er trug einen schlechtsitzenden grauen Anzug, in dem er nahezu unterzugehen schien. Aber er hatte harte, funkelnde Augen. Er war eine der anwesenden Personen, die auf jeden Fall keine Angst hatte.

Komischerweise trug er einen Hallo, mein Name ist Sticker vorne an seinem Anzug. Auf ihm stand in dicken krakeligen Buchstaben Brent Staples.

Luke kannte den Namen. Er war ein Wahlkampfstratege vom alten Schlag, ein Öffentlichkeitsarbeitsexperte. Luke meinte sich zu erinnern, dass er und Susan sich einmal zerstritten hatten, aber scheinbar hatten sie sich für den Wahlkampf wieder vertragen. Nicht, dass es Susan geholfen hätte.

„Ich hasse es, das zuzugeben“, sagte er und Luke konnte ihm ansehen, dass eigentlich genau das Gegenteil der Fall war. „Aber Jefferson Monroe sieht immer weniger verrückt aus, während wir Anwesenden hier zu den Verrückten werden.“

„Was wollen Sie damit sagen, Brent?“, fragte Susan.

„Ich möchte damit sagen, dass Sie sich ziemlich weit aus dem Fenster lehnen, Susan. Sie sind ganz allein und befinden sich in einer schwierigen Situation. Ich möchte sagen, dass Sie sich vom amerikanischen Volk abschotten. Aus der Sicht des Durchschnittsbürgers haben Sie die Wahl verloren, auch wenn es weh tut. Vielleicht hat Ihr Wahlkampfgegner mit gezinkten Karten gespielt. Aber noch weiß niemand, ob das wirklich der Wahrheit entspricht und wenn ja, welchen Einfluss es tatsächlich hatte. In der Zwischenzeit sagen Sie, dass Sie Ihr Amt nicht abtreten werden. Außerdem ist ein Mann ermordet worden, der Sie untersucht hat. Und es scheint, als wollten Sie der Polizei ein Verhör verweigern. Meine Frage an Sie lautet wie folgt: Wer sieht momentan wie der Verbrecher aus? Wer fängt an, wie ein Verrückter auszusehen?“

Kat Lopez stand in der Ecke des Raums. Sie schüttelte ihren Kopf und starrte Brent Staples an. „Brent, Sie gehen zu weit. Sie wissen, dass Susan niemanden ermordet hat. Sie wissen, dass das nur eine Show von Monroe und seinem Attentäter Gerry O’Brien ist.“

„Ich sage Ihnen nur, wie die Dinge wirken“, sagte Staples. „Nicht wie sie tatsächlich sind. Ich kenne die Wahrheit nicht und um ehrlich zu sein, spielt sie auch gar keine große Rolle. Es spielt nur eine Rolle, wie es aussieht.“

Er blickte sich im Raum um und schien jemanden zu suchen, der es wagen wГјrde, ihm zu widersprechen.

Der junge Tim Rutledge nahm die Herausforderung an. „Für mich sieht es so aus, als hätten sie ihren eigenen Detektiv ermordet, um Susan die Sache anzuhängen“, sagte er. „Für mich sieht es so aus, als hätten sie die Wahl durch Stimmenunterdrückung und Betrug gestohlen. So wirkt die ganze Sache auf mich.“

Luke entschied sich endlich, auch etwas dazu zu sagen. Er hatte erkannt, was an dieser Besprechung falsch lief. Vielleicht wГјrde es helfen, wenn er sie darauf hinwies.

„Für mich scheint es“, sagte er langsam, „als müssten Sie die Initiative wiedergewinnen.“

Alle Augen richteten sich langsam auf ihn.

„Denken Sie von der Situation wie von einem Kampf, einer Schlacht. Sie sind auf der Flucht. Sie sind durcheinander. Ihr Feind agiert und Sie reagieren. Bis Sie reagiert haben, macht Ihr Feind bereits etwas anderes. Er ist am Zug und Sie sind durcheinander und rennen wie wild davon. Sie müssen sich einen Gegenangriff überlegen, Ihren Feind auf dem Hinterfuß erwischen und die Initiative zurückgewinnen.“

„Und wie?“, fragte Brent Staples.

Luke zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ist das nicht Ihr Job, das herauszufinden?“

In den letzten paar Minuten hatte sich Kurt Kimball mit zwei seiner Assistenten in eine Ecke zurГјckgezogen. Etwas hatte ihn offensichtlich abgelenkt. Jetzt wandte er sich zurГјck an die Anwesenden.

„Ich mag die Idee, Stone. Aber im Moment wird es hart sein, die Initiative zu ergreifen.“

Stone hob eine Augenbraue. „Ach so? Warum das?“

„Wir haben gerade erfahren, dass in diesem Moment 100 Staatspolizisten aus West Virginia, sowie die Wheeling Stadtpolizei auf dem Weg nach Washington sind. Sie wollen hier ins Weiße Haus eindringen, Susan in Gewahrsam nehmen und sie selbst in das Hauptquartier der Polizei von D.C. geleiten.“

„Sie haben hier doch gar keine Zuständigkeit“, sagte der Anwalt des Weißen Hauses, Howard. „Haben sie den Verstand verloren?“

„Mir scheint, als hätte jeder heute den Verstand verloren“, sagte Kurt. „Allerdings haben sie tatsächlich Anspruch auf Befehlsgewalt, auch wenn er verschwindend gering ist.“

„Wie das?“

„Beide Polizeitruppen, sowie ein Dutzend weitere aus benachbarten Staaten, werden regelmäßig als Hilfskräfte nach Washington, D.C. beordert, um zum Beispiel Sicherheitskräfte für den Amtsantritt des Präsidenten alle vier Jahre zu stellen. Sie behaupten, dass sie das zu dauerhaften Abgeordneten macht.“

Howard schüttelte seinen Kopf. „Das wird vor Gericht niemals standhalten. Einfach lächerlich.“

Kurt hob seine Hände, als hätte Howard eine Waffe auf ihn gerichtet. „Ob es standhalten wird oder nicht, sie sind auf dem Weg. Scheinbar glauben sie, dass sie hier einfach reinspazieren, Susan mitnehmen und wieder davonziehen könnten.“

Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Stille war ohrenbetäubend, während sie sich gegenseitig ansahen.

„Sie werden in 30 Minuten hier sein“, sagte Kurt.




KAPITEL DREIZEHN


12:14 Uhr Eastern Daylight Time

Vor dem WeiГџen Haus

Washington, D.C.



„Niemand kommt hier rein“, sagte der große Mann in sein Walkie-Talkie. „Ist das klar? Ich möchte Männer am Eingang, aber auch Überwachung vom Himmel aus für jeden möglichen Einstiegspunkt. Schützen auf dem Dach.“

„Verstanden“, antwortete eine Stimme.

„Teilen Sie den Schützen mit, dass sie autorisiert sind, zu schießen. Ich wiederhole, tödliche Schüsse sind freigegeben, natürlich nur im Notfall.“

„Von wem kommt die Freigabe?“

„Von mir“, sagte der Mann. „Meine Verantwortung.“

„Verstanden“, sagte die Stimme.

Sein Name war Charles „Chuck“ Berg.

Er war 40 Jahre alt und seit fast 15 Jahren beim Geheimdienst. Er war seit mehr als zwei Jahren Leiter des Sicherheitsteams der Präsidentin. Eigentlich war er nur durch Zufall an diese Stelle geraten, durch den Anschlag. Am Abend des Mount Weather Angriffs war er Teil ihres Sicherheitsteams gewesen, als sie noch Vizepräsidentin gewesen war. Er hatte ihr Leben gerettet. Sein gesamtes Team war bei dem Angriff ums Leben gekommen.

Er hatte sich in dieser Nacht verändert, auch wenn er das erst rückblickend gemerkt hatte. Damals war er bereits 37 Jahre alt gewesen und hatte eine Arbeit mit äußerst hoher Verantwortung. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder – aber auf eine gewisse Art war er erst in dieser Nacht zum Mann geworden. Er war zu dem geworden, was er schon immer hatte sein sollen. Davor? Davor war er nur ein großes Kind gewesen, dessen Arbeitgeber ihn mit einer Waffe spielen ließ.

Susan hatte ihm nach dieser Nacht vollends vertraut. Und er vertraute ihr. Mehr noch – er fühlte sich verantwortlich für sie – und nicht nur, weil es sein Job war. Er war zehn Jahre jünger als sie, aber trotzdem kam es ihm manchmal so vor, als wäre er ihr großer Bruder.

Überleben – das Leben von jemandem retten – ist eine intime Affäre.

Er wusste, dass weder an diesen Korruptionsvorwürfen noch an der Mordanklage etwas dran war. Und er würde es nicht zulassen, dass irgendjemand einfach ins Weiße Haus spazierte und die Präsidentin der Vereinigten Staaten in Gewahrsam nahm – besonders keine Verrückten, die einen fabrizierten Haftbefehl in sein Gesicht hielten.

Er war gerade fertig damit, das Gelände zu Fuß abzugehen. Er ging die Einfahrt hinauf zurück zum Weißen Haus. Direkt vor ihm gingen ein Dutzend schwer bewaffneter Männer in Geschäftsanzügen die Straße entlang. Es war ein sonniger, kalter Tag. Die Schatten der Männer zeichneten sich scharf am Boden ab, zusammen mit ihren automatischen Gewehren und Schrotflinten, die sie an ihrer Seite trugen.

Das Wachhaus war direkt vor ihm. Betonbarrieren standen vor dem Häuschen. Sowohl ein STOPP als auch ein KEINE EINFAHRT Schild hingen am Zaun. Weitere Männer in Anzügen standen neben der Einfahrt. Sie sahen wachsam und angespannt aus. Ihre Anzüge sahen aus, als würden sie gleich platzen – sie hatten schusssichere Westen an.

Baufahrzeuge stellten gerade größere, dickere und schwerere Barrieren vor den kleineren Betonblöcken ab. Sie waren dabei die Konstruktion abzuschließen. Die neuen Barrieren sorgten für einen engen Gang, ein Labyrinth an scharfen Rechts- und Linksdrehungen. Jedes Fahrzeug, das sich näherte, müsste auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen. Breitere Fahrzeuge wie Trucks oder Humvees würden nicht einmal durchpassen.

ACHTUNG, stand auf einem Schild. SPERRZONE. 100% AUSWEISPFLICHT.

Heute wГјrde kein Personalausweis ГјberprГјft werden. Niemand kam heute rein oder raus.

In kurzer Entfernung, vielleicht 200 Meter entfernt, bezogen Männer in schwarzen Uniformen Position auf dem Dach des Weißen Hauses. Das waren die echten Experten, wusste Berg. Die Scharfschützen. Scharfschützen vom Geheimdienst, und jeder einzelne könnte aus dieser Entfernung mit Leichtigkeit eine Kugel in sein Herz jagen.

Ein Black Hawk Helikopter hob von einem Landeplatz hinter einem kleinen Wäldchen hinter dem Weißen Haus ab. Er flog nach Osten und drehte dann langsam Richtung Norden ab. Scharfschützen saßen in seinen offenen Seitentüren.

Und das waren nur die sichtbaren Verteidigungskräfte. Es gab noch mehr als 100 weitere Männer und Frauen, die das Gelände des Weißen Hauses überwachten, sowohl vom Geheimdienst als auch vom Militär. Kein Zentimeter des Zauns oder der Mauern rund um das Gelände war in diesem Moment unbeobachtet. Zusätzlich zu den Black Hawks waren noch drei Apache Kampfhubschrauber in der Luft, die über dem Potomac Fluss schwebten. Diese Apaches könnten eine ganze Reihe an Polizeifahrzeugen innerhalb weniger Sekunden auslöschen.

Die beiden Fronten waren so asymmetrisch, wie es nur ging. Die NBA Champions gegen das Г¶rtliche High School B-Team.

Chuck nahm sein Handy in die Hand. Er hatte den verrГјckten Sheriff aus Wheeling, West Virginia auf Kurzwahl. War der Mann auf einer Selbstmordmission? Chuck wollte es herausfinden.

Das Telefon klingelte drei Mal.

„Paxton“, sagte der Mann. Seine tiefe, raue Stimme klang leicht schleppend. Chuck würde seinen Dialekt nicht wirklich als südlich bezeichnen. Eher als Hinterwäldler aus den Appalachen.

Chuck stellte ihn sich vor. Er hatte einen Hintergrundcheck angefordert, als er gehört hatte, dass sie auf dem Weg seien. Bobby Paxton war ein breiter Mann Mitte 50, ein ehemaliger Marine, der seine Haare immer noch kurzgeschoren trug. Er war bekannt dafür, die Gesetze strikt durchzusetzen. Mehr noch – seit Jahren gab es Beschwerden über Polizeigewalt unter seiner Aufsicht, insbesondere gegen junge schwarze Männer in seinem Gewahrsam.

Paxton selbst war auch dafür bekannt, dass er eine Menge durchgeknallter Verschwörungstheorien unterstützte. Er glaubte scheinbar daran, dass Mitglieder der Regierung mit einer Rasse zwei Meter großer Aliens zusammenarbeiteten, die dem amerikanischen Militär Technologie wie Partikelwaffen und Antigravitationsflugzeugen versprochen hatten.

Es war durchaus möglich, dass Paxton verrückt war. Und wenn das stimmte, würde das ein langer Tag werden.

„Sheriff“, sagte Chuck. „Wo sind Sie jetzt?“

„Wir sind in zwei Minuten bei Ihnen. Sie sollten uns schon bald sehen können.“

„Sir, ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und ich werde mich noch ein letztes Mal wiederholen. Wir nehmen gerne am Eingang jegliche Art von Nachricht entgegen, die Sie für die Präsidentin haben. Weder Sie noch einer Ihrer Mitarbeiter wird das Gelände des Weißen Hauses heute betreten. Auf keinen Fall – mit Nullprozentiger Wahrscheinlichkeit – werden Sie die Präsidentin heute in Gewahrsam nehmen. Weder auf bundesstaatlichem Gelände noch in der Stadt Washington haben Sie die Befugnis –“

„Und ob wir die Befugnis haben“, sagte Paxton. „Meine gesamte Polizeitruppe –“

Chuck sprach weiter, ohne auf ihn zu achten. „Und die Behörde, die hier tatsächlich Befugnis hat, die Polizei von Washington, D.C., hat abgelehnt, den Haftbefehl auszuführen, den Sie bei sich tragen.“

Doch auch Paxton sprach unbeirrt weiter. „…wurde von der Stadt Washington, D.C. als Hilfskraft beordert.“

„Sir, Ihr Einsatz ist vergeblich und dazu noch gefährlich. Ich mache mir Sorgen, dass heute jemand ernsthaft verletzt werden könnte. Und ich kann Ihnen versprechen, dass es niemand von meinem Team sein wird.“

„Mein Sohn“, sagte Paxton, „Sie sind auf der falschen Seite der Geschichte. Wenn Sie auch nur ein bisschen Verstand besitzen, werden Sie beiseitetreten und mich meine Arbeit machen lassen. Wir werden reinkommen, egal wie Ihre Entscheidung aussieht.“

Chuck Berg ließ seine Schultern hängen. Er seufzte ausgiebig. So wollte er es also haben? Auf die harte Tour? Nun gut.

„Sheriff, wir haben Kampfhubschrauber in der Luft. Wir haben Scharfschützen auf dem Dach. Sie befinden sich bereits jetzt im Visier. Das muss Ihnen klar sein. Ich möchte Ihnen außerdem mitteilen, dass ich vor fünf Minuten die Verwendung tödlicher Gewalt autorisiert habe, um die Integrität der Sicherheitszone um das Gelände des Weißen Hauses zu bewahren. Ich rate Ihnen dringend, mir Ihre Unterlagen am Wachhaus zu übergeben. Sollten Sie oder einer Ihrer Männer den Versuch unternehmen, weiterzugehen, liegen die Konsequenzen ganz allein in Ihrer Verantwortung. Sollten Sie oder einer Ihrer Männer eine Waffe ziehen, werden Sie ebenfalls –“




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